„Das ist Hochleistungssport“ - 3 Stunden Schlaf, keine Pausen, Depressionen: Der brutale Alltag von Unfallchirurgen
Dennis* ist 44 Jahre alt und Unfallchirurg an einer hessischen Klinik. FOCUS online hat mit ihm über seinen Arbeitsalltag, volle Notaufnahmen und Misserfolge gesprochen. Die Befragung zeigte: Chirurgen sind häufig depressiv, jeder Siebte hat in jüngster Vergangenheit an Suizid gedacht.
FOCUS online: Sie haben sich bereit erklärt, uns von Ihrem Arbeitsalltag zu erzählen. Es ist gerade 11 Uhr und wir erreichen Sie zu Hause. Feierabend?
Dennis: Ja, ich bin um 9:15 Uhr heimgekommen, hatte einen 24-Stunden-Bereitschaftsdienst. Arbeitsbeginn war gestern früh um 8 Uhr.
Bereitschaft heißt aber lediglich, dass man sich bereithält, oder? Konnten Sie heute Nacht schlafen?
Dennis: Wenn’s hochkommt drei Stunden. Das ist durchaus üblich. Vor allem nach Mitternacht ging es diesmal nochmal richtig rund.
Was genau war los?
Dennis: Zuerst kam ein Patient, den man in einer Kneipe am Boden liegend gefunden hatte. Mit einer heftigen Kopfverletzung, die gereinigt, gespült und versorgt werden musste. Der Patient war in einem desolaten Zustand. Er ist wohnsitzlos. Man muss es sagen, wie es ist: Solche Patienten können heute aufgrund des wirtschaftlichen Druckes der Kliniken nicht mehr stationär aufgenommen werden, wenn keine harte sogenannte medizinische Indikation besteht. Die soziale Indikation reicht nicht. Das Problem allerdings: Das Risiko einer Wundinfektion ist durch die Obdachlosigkeit deutlich erhöht. Natürlich ist sowas über meine eigentliche Tätigkeit hinaus belastend. Wir haben solche Fälle öfter, und ich frage mich: Wie kann es sein, dass jemand in einem reichen Land wie Deutschland durch alle sozialen Netze fällt?
Unfallchirurg: „Wenn das Adrenalin nachlässt, kommt die Müdigkeit durch“
Hatten Sie nach der Versorgung des Obdachlosen dann etwas Ruhe?
Dennis: Ganz im Gegenteil. Fast zeitgleich kam der Rettungsdienst. Er brachte uns zwei Patienten nach einem schweren Verkehrsunfall. Aufgrund des Unfallmechanismus war mit schweren Verletzungen zu rechnen, sodass die Versorgung der Patienten über den Schockraum erfolgen musste. Ein Krankenhaus unserer Größe kann aber nur einen Schockraum versorgen. Leider hatte der Kollege die Situation vor Ort falsch eingeschätzt. Er hätte den zweiten Verletzen direkt in ein anderes Krankenhaus mit Schockraum bringen müssen. Das Ganze führte zu einer unnötigen Diskussion mit dem Rettungsdienst und somit zu einer Verzögerung der Versorgung des Patienten.
Warum die Diskussion?
Dennis: Weil der Rettungsdienst der Meinung war, es wäre besser, den Patienten da zu lassen. Hier sage ich ganz klar: Das wäre unverantwortlich gewesen. Deshalb bin ich bei meinem Standpunkt geblieben. Sowas kostet natürlich zusätzlich Energie.
Klingt so, als ob Sie in Ihrem Job an Grenzen stoßen.
Dennis: Das stimmt. Im Schnitt habe ich vier 24-Stunden-Dienste im Monat. Solche Nächte sind sowohl physisch als auch mental anstrengend, da man stets mit dem Schlimmsten rechnen muss.
Was meinen Sie damit?
Dennis: Nun, in dem Moment, in dem ein schwerer Notfall reinkommt, ist man hellwach. Mit Adrenalin überflutet sozusagen. Man will, man darf jetzt einfach keinen Fehler machen. Wenn das Adrenalin dann nachlässt, kommt die Müdigkeit durch.
Acht Stunden lang nicht essen und trinken
Erst dann? Oder gibt es auch Situationen, in denen Sie gefordert sind, aber Probleme haben, sich zu konzentrieren?
Dennis: Ehrliche Antwort: Die gibt es. Schließlich sind wir auch nur Menschen. Aber bevor ein Patient zu Schaden kommen könnte, macht man Raubbau an sich selbst und schaltet sämtliche potentielle Störfaktoren aus. Hunger zum Beispiel. Oder Durst. Es gab schon Schichten, da habe ich bestimmt acht Stunden lang nichts getrunken oder gegessen. Man vergisst das einfach. Drückt alles weg, was im Moment nicht unbedingt notwendig erscheint.
Dabei hört man doch so oft, was man alles tun soll, um fit im Job zu sein. Für Schreibtischtäter: Ab und zu aufstehen, sich dehnen…
Dennis: Als Chirurg kann ich über solche Tipps oder auch über diesen Trend mit den Fitnesstrackern nur schmunzeln. Ich behaupte mal: Die Chirurgie gehört zu den anspruchsvollsten Fächern in der Medizin. So zu arbeiten geht an die Substanz.
Woran genau machen Sie das fest? Sie haben gerade von Müdigkeit gesprochen.
Dennis: Ja, die hält nach einem solchen Dienst durchaus zwei Tage an. Vor fünf Jahren, als ich angefangen habe, war das noch anders. Da habe ich mich besser, schneller regeneriert. Mit jedem Jahr im Beruf brauche ich länger, um mich von der Anstrengung zu erholen. Woran merke ich das? Zum Beispiel wenn ich dann in meiner Freizeit ein Buch lesen will. Manchmal mache ich mehrere Anläufe und stelle schließlich fest, dass ich einfach nicht folgen kann. Ich lege das Buch dann wieder weg. Und natürlich merke ich es auch sonst im Alltag. Wir haben einen zweijährigen Sohn…
Ein anstrengendes Alter. Fühlen Sie sich als Vater manchmal überfordert?
Dennis: Nicht wirklich, was meinen Sohn angeht, bin ich eher gelassen. Die wenige Zeit, die ich mit ihm und meiner Frau verbringen kann sind mein Anker. Sollte ich mich durch ihn mal gestresst fühlen, sage ich mir: Er kann ja nichts dafür. Dass mein Geduldsfaden kürzer wird, merke ich eher in der Partnerschaft. Meine Frau ist auch berufstätig, unsere Tage sind voll durchgetaktet. Wenn etwas nicht nach Plan läuft, bin ich schnell mal gereizt. Insgesamt sind die Dienste für uns als Familie eine Belastung, glücklicherweise bringt meine Frau Verständnis für meinen Beruf mit. Zu Beginn unserer Beziehung hatte ich mit ihr offen darüber gesprochen, was es heißt, mit einem Arzt zusammen zu sein. Das hat nichts mit Glamour zu tun, wie es in den Medien gern dargestellt wird. Meine Frau ist sozusagen die Managerin unseres sozialen Lebens. Die Familie und Freunde sind für mich als Chirurg der wichtigste Ruhepol.
„Einige Kolleginnen und Kollegen haben schon die Reißleine gezogen“
Eine Studie der Abteilung für Chirurgie des Massachusetts General Hospital in Boston ergab, dass Chirurginnen und Chirurgen häufig depressiv, von Ängsten und posttraumatischer Belastungsstörung geplagt sind. Erstaunt Sie das?
Dennis: Nein, überhaupt nicht. Eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen haben bereits die Reißleine gezogen und sind gegangen. In einen anderen Bereich der Medizin oder auch ganz woanders hin – sprich: Sie arbeiten jetzt nicht mehr als Ärzte. Wie gut man mit der Belastung klarkommt, hängt auch von der eigenen Persönlichkeitsstruktur ab. Und nicht zuletzt davon, wie im jeweiligen Krankenhaus mit Misserfolgen umgegangen wird.
Warum ist letzteres wichtig?
Dennis: Weil der drohende Misserfolg für uns Chirurgen ein Dauerthema ist. Wir arbeiten ganz anders als beispielsweise ein Internist, der eher detektivisch unterwegs ist, sich ein Gesamtbild der Situation verschafft, in Ruhe überlegt. Wir Chirurgen müssen schnell entscheiden: Soll operiert werden oder nicht? Immer geht es darum, das Bestmögliche für den Patienten zu erreichen. Wenn das nicht gelingt, ist man frustriert. Ein Stück weit gehört das einfach dazu. Damit muss man umgehen.
Und das fällt dem einen schwerer als dem anderen?
Dennis: Auf jeden Fall, wobei das auch eine Frage der Fehlerkultur in der Klinik ist. Ich habe Glück und einen Chef, der mir sehr konstruktive Feedbacks gibt. Das ist alles andere als üblich. Ich würde sagen, dass es in Deutschland alles andere als optimal läuft. In den USA zum Beispiel geht man viel offensiver mit Misserfolgen um. Da gibt es regelrechte Feedback-Konferenzen, in denen klar angesprochen wird, was bei einer OP hätte besser laufen können. Ohne jemanden anzuschwärzen. Man denkt nach vorne. Konstruktiv.
„Ein ehrlicher Austausch in der Chirurgie findet in Deutschland kaum statt“
Stichwort Persönlichkeitsstruktur: Sind Sie jemand, der vergleichsweise gut mit Stress klarkommt?
Dennis: Klares Ja. Das habe ich schon als Jugendlicher gemerkt und ich merke es bis heute in ganz banalen Alltagssituationen. Der Klassiker: Ein Haushaltsgerät geht kaputt. Meine Frau wird dann schon mal hektisch. Ich denke mir: Okay, das Ding ist kaputt, das kann man reparieren.
Aber so sind nicht alle Kollegen?
Dennis: Wer weiß das schon? Das kann man nur erahnen. Wie gesagt, der offene Umgang mit den Belastungen, ein ehrlicher Austausch – das findet so hier bei uns in Deutschland in der Chirurgie kaum statt.
Die Studie aus Boston ergab: Jeder siebte Chirurg hat schon an Suizid gedacht. Frauen häufiger als Männer. Überrascht Sie das?
Dennis: Ehrlich gesagt: nein. Wenn die Belastung übergroß ist, arbeitet das Gehirn anders. Ich kann mir gut vorstellen, dass das Risiko, schwarz zu malen und in eine depressive Stimmung zu verfallen, steigt, wenn das Stresslevel zu hoch wird. Und ich gebe Ihnen schriftlich: Es wird schlimmer werden. Der Fachkräftemangel, der auf uns zukommt, ist dramatisch. Das System ist am Anschlag. Leider haben Patienten, die in die Notaufnahme kommen, für sowas wenig Verständnis. Ich kann nachvollziehen, dass Leute genervt sind, wenn sie viele Stunden warten müssen. In manchen Krankenhäusern bis zu zehn Stunden. Aber dann zu sagen: „Ich gebe euch eine schlechte Google-Bewertung“, das ist einfach keine Art. Wir geben unser Bestes – noch einmal: oft zum Preis der eigenen körperlichen und seelischen Gesundheit.
Chirurg denkt über Auswanderung nach, um ein „halbswegs normales Leben“ führen zu können
Was müsste sich ändern?
Dennis: Ich komme aus dem Ruhrgebiet, bei uns pflegt man eine einfache, verständliche Sprache. Ich sage mal so: Was wir in der Unfallchirurgie machen, ist Hochleistungssport. Wir müssen uns über eines im Klaren sein: Die Leistung eines Porsche bekommen wir nicht zum Preis von Aldi.
Sie fordern also andere Arbeitsbedingungen?
Dennis: Unbedingt. Wir haben ein riesiges Systemproblem. Wir haben viele Patienten, die eigentlich in eine Hausarztpraxis gehören würden. Die Situation der hausärztlichen ambulanten fachärztlichen Versorgung dürfte aber bekannt sein. Also landen diese Patienten bei uns und verstopfen regelrecht die Notaufnahmen. Ein weiteres Problem ist der Verwaltungsaufwand, den wir Klinikärzte inzwischen haben, wodurch unsere Ausbildung erheblich leidet, insbesondere was die operative Ausbildung angeht. Mein Eindruck: Wir dokumentieren mittlerweile mehr als mancher Verwaltungsfachangestellte. Das kann nicht sein. Ich bin ehrlich: Auch ich habe eine zeitlang darüber nachgedacht, aus dem Job auszusteigen.
Aber?
Dennis: Ich bin vom Herzen her ein Chirurg. Die Unfallchirurgie und Orthopädie zu verlassen wäre für mich ein Scheitern, da genau dieses Fach für mich die Motivation im Studium war. Allerdings denken wir inzwischen einigermaßen laut darüber nach, ins Ausland zu gehen. Ich würde gerne in einem Umfeld arbeiten, in dem meine Familie und ich ein halbwegs normales Leben führen können, in jeder Hinsicht. Hier in Deutschland sehe ich das in naher und ferner Zukunft für uns Ärzte und die Kollegen aus der Pflege leider nicht.
*Dennis heißt eigentlich anders. Er möchte auf eigenen Wunsch anonym bleiben.