Immer mehr Konzerne bauen Stellen ab - Deutschem Arbeitsmarkt droht ein „Tod der tausend Schnitte“
Trotz der Stagnation der deutschen Wirtschaft arbeiten in Deutschland so viele Menschen wie nie. Doch diese Zahlen trügen: Unter der Haube mehren sich die Probleme am Arbeitsmarkt. Experten befürchten eine Krise der „tausend Schnitte“.
Die deutsche Wirtschaft kränkelt seit geraumer Zeit, doch ein Bereich zeigte bislang nur wenige Symptome – der Arbeitsmarkt. Obwohl das Bruttoinlandsprodukt faktisch seit Ende 2022 stagniert, stieg die Arbeitslosigkeit nur wenig an.
Mit derzeit 6,1 Prozent liegt die Rate zwar wieder etwas über dem Allzeittief von 4,9 Prozent Mitte 2022, aber weiter unter dem europäischen Schnitt. Laut Eurostat beträgt die Quote sogar nur 3,4 Prozent, wenngleich diese Daten anders erhoben werden als die Zahlen des Statistischen Bundesamts.
Dennoch: Das kann sich (noch) sehen lassen. Von den größeren Industriestaaten in Europa weist nur Polen mit einer Quote von 2,9 Prozent einen besseren Wert auf. Im EU-Schnitt liegt die Quote mit 6,0 Prozent beinahe doppelt so hoch.
Der Arbeitsmarkt steht vor einem „Tod der tausend Schnitte“
Damit, prophezeit eine Analyse der „Financial Times“ , dürfte es bald vorbei sein. Deutschlands Arbeitsmarkt leide an einem „Tod der tausend Schnitte“, wie ING-Chefökonom Carsten Brzeski jüngst erklärte.
Die offiziellen Zahlen verbergen Probleme unter der Haube, so die „FT“. Zwar kämen beispielsweise weiter Jobs im Niedriglohnsektor hinzu – 2023 gab es insgesamt 45,8 Millionen Erwerbstätige –, doch dem stehe ein Wegfall an gut bezahlten Stellen im verarbeitenden Gewerbe entgegen.
Besonders betroffen: Der Automobilbau. Volkswagens Ankündigung, Stellen abzubauen und womöglich sogar ein Werk in Deutschland zu schließen, ist dabei nur die jüngste Hiobsbotschaft. Seit 2018, erklärt die „FT“, ist die Beschäftigung in diesem Sektor um 6,5 Prozent auf 780.000 Arbeitnehmer gefallen.
Das dürfte so weitergehen. Einer Umfrage der Unternehmensberatung Horvath unter 50 Zulieferern der Branche ergab, dass 60 Prozent der Firmen ihre deutsche Belegschaft in den kommenden fünf Jahren verkleinern wollen.
Große Firmen wollen 55.000 Stellen abbauen - noch dieses Jahr
Auch abseits des Automobilbaus kündigten zuletzt viele bekannte Firmen Job-Kahlschläge an. Wie die „Financial Times“ errechnete, wollen große Konzerne wie SAP, Miele und Bayer in diesem Jahr mehr als 55.000 Stellen abbauen, wenngleich nicht alle davon in Deutschland.
Arbeitsmarktforscher Bernd Fitzenberger vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung beurteilte die Lage am Arbeitsmarkt als „besorgniserregend“. „Manche der großen Konzerne hinterfragen mittlerweile ihr Geschäft in Deutschland, welches lange sehr erfolgreich war“, so der Forscher zur „FT“.
Ulrich Sittard, der für die Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer Konzerne bei Stellenabbau-Programmen berät, bestätigte diese düsteren Aussichten. „In meiner Wahrnehmung“, sagte Sittard, „bauen die großen Blue Chips in Deutschland so viele Jobs ab wie seit der großen Finanzkrise nicht mehr“.
Umgekehrt stehen die Firmen vor dem Problem, dass manche Fachkräfte kaum noch zu bekommen sind – und behalten daher Personal, welches früher abgebaut worden wäre. „Vor zwanzig Jahren wäre die Arbeitslosigkeit nach zwei Jahren schwachen Wachstums deutlich stärker gestiegen“, kommentierte Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.
„Wir können nicht nur davon leben, gegenseitig auf unsere Kindern aufzupassen“
Gleichzeitig sieht Schäfer die Deindustrialisierung und den Wegfall der Jobs dort kritisch. Ein Beispiel sei die Chemieindustrie, mit traditionell hohen Gehältern. „Wird in Deutschland ein Chemiewerk dichtgemacht, dann kommt das nicht mehr zurück“, so Schäfer.
Der Aufbau von Stellen anderweitig, etwa im Gesundheitswesen, in sozialen Einrichtungen, im Bildungsbereich oder anderen Dienstleistungsbranchen sei zwar wichtig für die Gesellschaft als Ganzes. Dennoch bestehe die Gefahr, dass der Arbeitsmarkt bald „zweigeteilt“ sein könnte, was zu schwächerem Lohnwachstum, einer steigenden Ungleichheit und wachsenden öffentlichen Ausgaben führen könnte.
Oder, wie Schäfer es ausdrückte: „Wir können nicht nur davon leben, dass wir gegenseitig auf unsere Kindern aufpassen“