Interne Papiere: Herbert Diess lässt bei VW die Baureihen für mehr E-Mobilität umstellen

Mit der Studie ID. Life zeigt VW, wie ein kleiner Stromer aus der Baureihe G4 für rund 20.000 Euro ab 2025 aussehen könnte.
Mit der Studie ID. Life zeigt VW, wie ein kleiner Stromer aus der Baureihe G4 für rund 20.000 Euro ab 2025 aussehen könnte.

Der Wolfsburger VW-Konzern plant einen fundamentalen Umbau in den Prozessen der Produktentstehung. Dies belegen interne Unterlagen aus der Hauptmarke VW Pkw, die Business Insider einsehen konnte. Hintergrund der weitreichenden Neuerungen ist das Drängen von VW-Vorstandschef Herbert Diess auf mehr Tempo und höhere Effektivität im weltweit immer härteren Wettbewerb, etwa gegen den US-Rivalen Tesla.

Die tiefen Umstrukturierungen beim Kernlabel betreffen perspektivisch auch die spanische VW-Tochter Seat, den tschechischen Anbieter Škoda Auto sowie VW Nutzfahrzeuge (VWN). Diese drei Hersteller und Volkswagen Pkw haben die Wolfsburger in ihrem Marken-Cluster Volumen gebündelt, als dessen Sprecher VWs Hauptmarkenchef Ralf Brandstätter fungiert.

Die beschleunigte und engere Zusammenarbeit der vier Volumen-Brands war ein wichtiges Arbeitsgebiet des „Global Leadership Summit“ (GLS) von VW im österreichischen Alpbach, über das Business Insider als Erstes berichtet hatte. Auch neue Steuerungsmodelle für die gesamte VW-Gruppe wurden in Tirol von insgesamt rund 200 Top-Führungskräften aus aller Welt heiß diskutiert.

Eines der vertraulichen Strategie-Papiere von VW trägt die Überschrift „Drei Steuerungsmodelle für die Transformationsphase“. Demnach bleibt das Unternehmen zwar der Aufteilung in vier Baureihen treu, gliedert diese im Wandel von der Verbrenner- zur Elektrowelt aber völlig neu. Das Baureihen-Prinzip hatte Diess’ Vorgänger als VW-CEO, Matthias Müller, bei seinem Wechsel als Porsche-Chef an die VW-Konzernspitze im Zuge der Dieselgate-Aufarbeitung von der schwäbischen Sportwagenmarke mitgebracht nach Wolfsburg.

Ein internes VW-Chart weist das „verabschiedete Zielbild“ detailliert aus. Demnach ist die Baureihe G1, früher lediglich zuständig für kleine Fahrzeuge à la VW Up, jetzt verantwortlich für ein breites Spektrum von „Polo bis Golf, A-Stufe, T-Roc“. Der Buchstaben A kennzeichnet traditionell das sogenannte Kompaktsegment („Golf-Klasse“). Die andere Verbrenner-Baureihe, G2, soll sich Autos von „Tiguan, Tayron bis Passat, internationale(n) SUV/ MPV, Touareg“ widmen. Buchstäblich spannend wird es bei G3 und G4. Diese beiden Elektro-Baureihen – lange Zeit war bei VW nur G4 in der E-Mobilität aktiv – spielen Schlüsselrollen im Wettbewerb mit Tesla und anderen rasch aufkommenden Stromer-Herstellern, vor allem aus China.

Ausweislich der Unterlagen fasst VW unter G3 die Projekte „Trinity, eSUV, Aero NF, ID Familie NF auf SSP“ zusammen. Dabei steht „Trinity“ für ein von Grund auf neu konzipiertes E-Mobil, das spätestens ab 2026 im Stammwerk Wolfsburg gefertigt werden und bis Anfang 2022 zunächst noch in einem sogenannten Projekthaus heranreifen soll. Das Kürzel „NF“ bedeutet „Nachfolge(r)“. Mit „SSP“ (Scalable Systems Platform) wiederum bezeichnet VW seine absehbar über zig Millionen von Neuwagen-Einheiten jährlich hinweg skalierbare Mechatronics-Plattform der nächsten Generation.

Für sie ist die Konzeption „E³ 2.0“ vorgesehen, mithin eine „End-to-End-Elektronik-Architektur“ der zweiten Generation. Das „E³“-Gerüst und das Betriebssystem „vw.OS“ sollen Updates und System-Upgrades über den Lebenszyklus der Fahrzeuge ermöglichen – und damit eine Vielzahl überaus lukrativer Geschäftsmodelle. „E³ 2.0“ gilt obendrein als eine hochgradig moderne Architektur, die VW im Hinblick auf autonomes Fahren und innovative App-Anbindungen benötigt.

Die zweite Elektro-Baureihe – G4 – vereint die Palette von „ID Familie auf MEB inkl. PAs, (D)LCM Elektro, small BEV, Aero, Schnittstelle CARIAD E³ 1.x“ Mit „MEB“ gemeint ist der Modulare Elektroantriebsbaukasten, auf dem etwa VW ID.3, Cupra Born (Seat), Škoda Enyaq iV und Audi Q4 e-Tron basieren. Das Kürzel „PA“ steht für „Produktaufwertung“, also Maßnahmen der Modellpflege. „DLCM“ meint das bei modernen Fahrzeugen unerlässliche Data oder auch Digital Life Cycle Management.

„Small BEV“ bezeichnet ein kleines Batterie-Auto; im Rahmen seiner „Accelerate“-Strategie zieht VW ein ID-Modell im Kleinwagensegment um zwei Jahre auf 2025 vor. Unter dem Code „Aero“ verbirgt sich eine Art elektrisch angetriebener Passat. Cariad heißt VWs Tochtergesellschaft für Automotive Software.

Bei der Steuerung seiner neu zugeschnittenen Baureihen unterscheidet VW zwischen den vergleichsweise herkömmlichen Methoden „Bauteil-/ Funktionsorientiert“ (G1) sowie „Funktionsorientiert“ (G2 und G4). Die besonders zukunftsträchtige Baureihe G3 hingegen wird VW ausschließlich nach neuesten Management-Erkenntnissen führen, wie sie schon gang und gäbe sind in IT-Konglomeraten à la Microsoft, Google oder SAP: „Systemorientiert“.

Von Herbert Diess persönlich, einem erklärten Synergie-Fan und akribischen Kostenhygieniker, könnten diese Vorgaben in den VW-Dokumenten stammen: „In der Transformationsphase gilt für die Steuerungsmodelle: So ähnlich wie möglich – so differenziert wie nötig“. Und, mit Blick auf das einstweilige Nebeneinander der drei Leitideen: „Überführung zu einem Steuerungsmodell muss ausgeplant werden“. Ein drängendes „Muss“ betrifft zudem die Suche nach ausreichend qualifizierten Mitarbeitenden für die vier umformierten Baureihen. „Stellenbesetzung größtenteils abgeschlossen!“ heißt es zwar grellgelb über einer entsprechenden VW-Analyse, die für die Baureihen G1, G2 und G4 das Ausfüllen aller Planstellen zu 92, 94 und 93 Prozent ausweist. „Geplante Lastverteilung mit vorhandenen Mitarbeitenden umgesetzt“, so eine Unterzeile von Anfang Oktober.

Doch ganz anders sieht es aus bei G3, der Familie etwa von „Trinity“ und „ID-Nachfolger“: Hier sind aktuell immerhin noch 23 Prozent aller Positionen vakant. IT-Fachkräfte sind industrieweit so rar wie gesucht. Die bedrohlich große Lücke von fast einem Viertel aller G3-Stellen müssen Diess und Brandstätter dringend schnellstens schließen, um ihre ehrgeizigen Zeitpläne nicht zu gefährden. Zumal das Projekt „Trinity“ von enormer Bedeutung ist für die spätere Auslastung des VW-Stammwerks Wolfsburg. Dort wollte, was oft vergessen wird, VW laut „Zukunftspakt“ ursprünglich mit der E-Mobilität beginnen. Der Zuschlag für die Serienproduktion der ersten MEB-Modelle ging dann allerdings doch an den sächsischen Standort Zwickau.

Schon melden bei VW die ersten Führungskräfte hinter vorgehaltener Hand starke Zweifel an, ob dem aktuellen Golf 8 mit seinen Verbrennungs- und Hybridantrieben wirklich in einigen Jahren noch ein völlig neu entwickelter Golf 9 folgen wird – oder lediglich eine signifikante Golf-8-Produktaufwertung.

Doch nur mit der Produktion von „Trinity“-Fahrzeugen könnte VW seinen Standort Wolfsburg wohl kaum ausreichend unter Dampf halten. Umso verständlicher ist die Forderung von Betriebsratschefin Daniela Cavallo nach der Vergabe eines zweiten E-Modells an die Mega-Fabrik am Mittellandkanal. Im November dieses Jahres steht bei VW auch zur Werksbelegung die 70. Auflage der jährlichen Planungsrunde an.

Auf dem „GLS-Event" in Tirol hatte sich Herbert Diess vor seinem Topmanagement trotz vieler Erfolge mit VW selbst gefragt: „Warum ist der Chef dennoch immer wieder so nervös? Oft so pushy und hart?“. Einige Führungskräfte, erfuhr Business Insider, sprechen augenzwinkernd – und wenn der Mann nicht in der Nähe ist – gar bereits von „Herbert Fies“.

Die unumwundene Antwort des VW-Lenkers: „Weil ich mir Sorgen mache“.

Zur Überraschung von Diess und dem Erstaunen der Führungskräfte hatte Bernd Osterloh, Cavallos Vorgänger als VW-Betriebsratschef und jetzt Personalvorstand von VWs Nfz-Gruppe Traton, seine persönliche Teilnahme im österreichischen Alpbach abgesagt. „Vielleicht wollte der Bernd unangenehmen Fragen rund um einen möglichen Abbau von Arbeitsplätzen aus dem Weg gehen“, mutmaßt ein VW-Kollege.

Ähnlich überraschend wie No-Show-Osterloh war, dass Diess in Tirol per Videocall Elon Musk zuschalten ließ, den Chef von Tesla. Auf dem Karriereportal „LinkedIn“ lobte Diess den US-Konkurrenten hernach unter anderem für dessen beeindruckende Geschwindigkeit bei der Bekämpfung des branchenweit grassierenden Halbleitermangels.

Ebenfalls auf „LinkedIn“ ließ Diess wissen: „Freue mich über die Angriffslust, Ralf Brandstätter!“. Letzterer hatte zuvor in einem Interview eingeräumt: „VW muss sich noch schneller verändern“.

Da wurde Herbert Diess noch weitaus deutlicher – und ganz konkret: „Für Trinity brauchen wir ein neues Mindset (Denkweise; Anm. d. Red.) – es geht nicht nur um die Marke, sondern auch um den Konzern. Es geht um Wolfsburg“.

Kein Wunder also, dass ein hochrangiger VW-Manager den Umbau der Baureihen gegenüber Business Insider als „eine Operation von größter Bedeutung“ beschrieb.

„Wenn sich dieser Neuzuschnitt und darauf aufsetzende Pläne, die nun geschmiedet werden, in der betrieblichen Praxis bewähren, macht sich VW auf Jahre international nahezu unangreifbar“, so der altgediente VWler.

Dann überlegte er nochmals – und schob nach: „Wenn nicht, dann bekommen wir ein ernstes Problem“.