Intersexuelle Sportlerin im Interview - „Das traditionelle Frauenbild gilt wieder als Nonplusultra - das macht mir Angst“
Heute Abend steht die Boxerin Imane Khelif im olympischen Finale gegen die Chinesin Yang Liu. Die Kämpfe der Algerierin sorgen für Diskussionen, weil sie auffällig männlich wirkt. Wir sprachen mit Jeanne Riedel. Die 39-Jährige hat vor einigen Jahren erfahren, dass sie intersexuell ist.
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FOCUS online: Frau Riedel, das heutige Finale im Frauenboxen wird heiß diskutiert. In zwei unterschiedlichen Gewichtsklassen gehen jeweils Sportlerinnen an den Start, die auffällig männlich aussehen. Zum einen die Algerierin Imane Khelif (25) in der 66-Kilo-Klasse. Und dann die Taiwanerin Lin Yu-ting (28) in der 57-Kilo-Klasse. „Männliche Boxerinnen kämpfen um Gold“, titelte die „Bild“-Zeitung. Was sagen Sie dazu?
Riedel: Das sind keine männlichen Boxerinnen!
Sondern?
Riedel: Das Problem ist, dass die Leute in zwei Kategorien denken. Die Natur zeigt allerdings, dass es ein bisschen vielfältiger ist. Na ja, ein bisschen ist wohl eher untertrieben…
Was meinen Sie?
Riedel: Tatsächlich gibt es über 3000 verschiedene Varianten der Geschlechtsentwicklung. Von „Differences of Sex Development“, kurz „DSD“ spricht die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Bei Imane Khelif würde ich schon davon ausgehen, dass sie intersexuell ist – dass sie also sowohl ein X- als auch ein Y-Chromosom hat.
Das würde bedeuten, sie hat sowohl weibliche als auch männliche Merkmale. Mit „Ich würde davon ausgehen“ formuliere ich bewusst vorsichtig. Bei mir selbst hat es zwei Jahre gedauert, bis ich eine Diagnose hatte, obwohl meiner Ärztin sofort Auffälligkeiten bei den Hormonen und im Stoffwechsel aufgefallen sind.
Wird die Diagnose denn nicht bei der Geburt gestellt?
Riedel: Bei mir war das so. Androgen-Insensitivitäts-Syndrom (AIS) - das ist damals schwarz auf weiß festgehalten worden. Aber meine Eltern wollten wohl gerne einen Jungen und haben meinen Geschlechtseintrag drei Monate nach der Geburt entsprechend umändern lassen. Gegen den Rat der Ärzte übrigens, die mich nach der Geburt als Mädchen eingetragen hatten. Das ist bei den meisten Betroffenen so.
Inzwischen steht in Ihrem Pass, dass Sie weiblich sind, nicht wahr?
Riedel: Ja, ich habe im Alter von zwölf Jahren gemerkt, dass ich kein „richtiger“ Junge bin. Vereinfacht: Die männlichen Hormone sind da, wirken aber nicht so wie bei einem Mann.
Der Rezeptor spricht nicht auf sie an. Dadurch kommt es zu einer Verweiblichung, trotz Hoden oder in meinem Fall in der Leiste liegenden Stranggonaden. Das ist Quasi die Vorstufe von Hoden oder auch zu Ovarien, also Eierstöcken.
„Wenn sie gegen 'richtige' Männer antreten würde, hätte sie keine Chance“
Und wie äußert sich diese Besonderheit, im Sport zum Beispiel?
Riedel: Das ist ein gutes Beispiel. In der Schule war ich nie besonders sportlich, so im Dreierbereich. Aber in der Pubertät haben mich meine Klassenkameraden total überholt. Die hatten eine Muskelkraft, da konnte ich einfach nicht mithalten. Eine Zeit lang hatte ich im Sport eine Fünf.
Man hört, Imane Khelif sei überlegen, weil sie die Körperkraft eines Mannes hätte.
Riedel: Das stimmt so nicht. Wenn sie gegen „richtige“ Männer antreten würde, hätte sie keine Chance. Wenn sie aber gegen „richtige“ Frauen kämpft, hat sie vielleicht einen gewissen Vorteil.
Doch dass man ihr unterstellt, sie habe sich zur Frau degradiert, nur um Preise zu gewinnen… das ist Quatsch. Im Vorfeld dieser Wettkämpfe ist alles mit rechten Dingen zugegangen – das muss man, glaube ich, einmal ganz klar sagen.
Bei der WM 2023 ist die Boxerin wegen eines nicht bestandenen Geschlechtstests disqualifiziert worden.
Riedel: Ja, man sagt, ihre Hormonwerte seien zu hoch gewesen. Angeblich waren die danach aber zwölf Monate lang unter einem bestimmten Grenzwert.
Daher hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) beschlossen, sie starten zu lassen. Wenn nun Imanes Start bei den Olympischen Spielen infrage gestellt wird, geht es also nicht um ihre Hormone, sondern nur um ihr - vermeintliches - Y-Chromosom.
„Für mich hat das ganz klar politische Gründe“
Nur?
Riedel: Wie gesagt, ganz so einfach, wie manche meinen, ist es nicht. Wieder vereinfacht: Das Y-Chromosom ist nur ein Dominostein im Hormonkreislauf. Für eine Leistungssteigerung müssen schon noch weitere Dominosteine fallen – und damit weitere Prozesse in Gang setzen.
Mit anderen Worten: Imane ist weit genug weg vom Männlichen und nah genug am Weiblichen dran, um heute Abend an den Start zu gehen und vielleicht Gold zu holen. Ich gehe davon aus, dass das IOC die Situation im Vorfeld sehr genau geprüft hat. Das ist schließlich nicht der erste Fall dieser Art.
Nicht?
Riedel: Nein. Allerdings ist es der erste Fall, der medial so zerrissen wird. Denken Sie an Pedro Spajari…
Können Sie uns aufklären? Wer ist das?
Riedel: Ein brasilianischer Schwimmer, der 2015 den World Championship gewonnen hat. 100 Meter Freistil. Spajari hat das so genannte Klinefelder-Syndrom: zwei X- und ein Y-Chromosom. Auch 2020, bei den Olympischen Spielen, war er dabei.
Im Jahr 2016 gab es bei den Olympischen Sommerspielen in Rio übrigens die Situation, dass drei intersexuelle 800-Meter-Läuferinnen gleichzeitig auf dem Siegertreppchen standen. Ich kann mich nicht erinnern, dass es damals einen Aufschrei gegeben hätte.
Warum ist das aus Ihrer Sicht jetzt anders?
Riedel: Was Spahari angeht muss man wohl sagen: Der ist bei den Männern gestartet, schon allein deswegen stand er nicht so im Fokus.
Warum das?
Riedel: Ich habe den Eindruck, dass der Frauensport seit einiger Zeit wieder ganz anders wahrgenommen wird. Ein Rückschritt.
Das müssen Sie bitte auch erklären.
Riedel: Für mich hat das hat ganz klar politische Gründe. Wir haben einen Rechtsruck, in ganz Europa. Das traditionelle Frauenbild gilt wieder als Nonplusultra. Eine Frau hat so zu sein, ein Mann so… das macht mir Angst!
„Ein gewisser Vorteil ist denkbar“
Was genau macht Ihnen Sorgen?
Riedel: Dass so vieles in einen Topf geworfen und dann alles pauschal der Trans-Community angelastet wird. „Kill all trans“ hat gestern jemand hier in München an ein queeres Zentrum gesprüht.
Abgesehen davon, dass sowas generell nicht geht: Es ist schlichtweg falsch zu behaupten, die algerische Boxerin sei transsexuell. Aber genau so läuft diese Diskussion: Da würde jemand so tun, als ob… eben, um sich einen Vorteil zu verschaffen.
Allerdings haben Sie gerade selbst von einem gewissen Vorteil gesprochen, den die algerische Boxerin gegenüber ihren Konkurrentinnen haben könnte.
Riedel: Es ist komplex. Ja, ein gewisser Vorteil ist denkbar. Andererseits: Beim Boxen gibt es Gewichtsklassen. Das heißt, es treten Sportlerinnen gegeneinander an, die ungefähr gleich schwer sind. Wie wir wissen, macht vor allem die Knochendichte und die Muskulatur das Gewicht aus. Die dürfte bei den Boxerinnen jeweils ähnlich sein.
Was halten Sie von der Idee, Trans- und Intersexuelle zusammen in einer eigenen Kategorie starten zu lassen?
Riedel: Ich halte das durchaus für einen gangbaren Weg. Alles, was zu einem konstruktiven Umgang beiträgt, begrüße ich. Übrigens: Ich bin selbst in einem queeren Sportverein, bei den Isarhechten .
Ich bin Schwimmerin. Bisher habe ich noch an keinem Wettkampf teilgenommen. Sollte es einmal so kommen, wäre ich froh, um die Möglichkeit, in der dritten Kategorie zu starten.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, vor dem Wettkampf heute Abend mit Imane Khelif zu sprechen: Was würden Sie ihr sagen?
Riedel: Ich würde ihr einen guten Kampf wünschen. Fair Play! Und dass sie sich bitte nicht zu Herzen nehmen soll, was da gerade in den sozialen Medien läuft. So kann das jedenfalls nicht weitergehen. Da wird ein Geschlechterkampf geführt, der nicht unserer ist!