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Interview: SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sieht Vertrauen in die Politik gefährdet

Lars Klingbeil auf dem SPD-Parteitag im Dezember 2019 (Bild: Reuters/Fabrizio Bensch)
Lars Klingbeil auf dem SPD-Parteitag im Dezember 2019 (Bild: Reuters/Fabrizio Bensch)

In der Coronakrise zeigte sich die große Koalition eigentlich geschlossen, der letzte Koalitionsausschuss lieferte Ergebnisse wie das Kurzarbeitergeld. Beim genauen Hinschauen zeigen sich jedoch einige Reibungspunkte. Im Interview mit Yahoo Nachrichten kritisiert Lars Klingbeil die Überbietungswettbewerbe in der Union und appelliert an Bildungsministerin Karliczek, ihre Blockade der BAföG-Öffnung aufzugeben. Es müsse Schritt für Schritt wohlüberlegt für das Gemeinwohl gearbeitet werden fordert der SPD-Generalsekretär.

Herr Klingbeil, die große Koalition präsentierte stolz die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes. Diese gilt jedoch nur bis Ende des Jahres, ist das langfristig genug gedacht?

Lars Klingbeil: Immer mehr Leute mussten in den letzten Wochen in Kurzarbeit gehen. Sie hilft, damit Menschen nicht arbeitslos werden, aber es haben sich die Rückmeldung gehäuft, dass man bei einem niedrigen Einkommen natürlich nicht mit 60 bzw. 67% seines Gehaltes lange auskommen kann. Wir haben daher in der großen Koalition jetzt eine Erhöhung bis zu 80 bzw. 87% durchgesetzt, da bin ich in der Tat sehr stolz drauf, dass wir das als SPD für die Menschen geschafft haben. Aber wir wissen auch, dass uns diese Krise noch länger beschäftigen wird und werden natürlich zu einem geeigneten Zeitpunkt neu darüber diskutieren müssen, ob es weitere Anpassungen braucht. Erstmal unterstützen wir jetzt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Kurzarbeit mit etwas mehr Lohn.

Wobei man 80% oder eben 87% als Elternteil doch erst nach dem siebten Monat erhält, und wir haben bereits Ende April! Gibt es die Möglichkeit, diese 87% in die nächste Überlegungen mitzunehmen?

Klingbeil: Es war sehr schwierig, mit der Union überhaupt eine Erhöhung des Kurzarbeitergeldes hinzubekommen. Deshalb ist das jetzt erst mal ein Erfolg. Diese Krise ist für uns alle eine neue Herausforderung, auch für die Politik, weil es ja keine Erfahrungswerte gibt. Wir sind in einer Situation, die nicht vorhersehbar oder planbar ist, wir müssen alles Schritt für Schritt entwickeln. Jetzt hilft die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes erstmal sehr konkret und alles Weitere werden wir dann in den kommenden Monaten entwickeln.

Nun, Kurzarbeit gilt für Berufstätige. Die nächste Generation, Studierende, sitzt auf einem anderen Problem: Bildungsministerin Karliczek schlug bezüglich der weggefallenen Jobs vor, Kurzkredite an Studierende zu vergeben. Sie selbst haben sich schon empört über den Vorschlag, welche Ideen hat die SPD für Studierende?

Klingbeil: Wir wollen das BAföG für Studierende öffnen, die jetzt gerade in der Krise ihren Nebenjob verloren haben. Ich erwarte von Frau Karliczek, dass sie sich endlich bewegt. Ich kann wirklich nur mit dem Kopf schütteln, wenn ich sehe wie sich die Bildungsministerin wegduckt und mit Vorschlägen kommt, die für die meisten Studierenden eine zusätzliche Belastung wären. Es geht jetzt darum, den Studierenden, die nicht wissen wie sie über die nächsten Monate kommen sollen, schnell zu helfen. Übergangskredite, die in nur wenigen Monaten wieder zurückgezahlt werden müssten, sind dafür ganz sicher kein gutes Mittel. Das BAföG-Gesetz wird gerade im Bundestag verhandelt, Frau Karliczek muss nur endlich ihre Blockade aufgeben, dann haben wir schnell etwas für die Studierenden erreicht.

Homeoffice und Homeschooling stellen die Bürger vor viele Herausforderungen (Symbolbild: Getty Images)
Homeoffice und Homeschooling stellen die Bürger vor viele Herausforderungen (Symbolbild: Getty Images)

Für bedürftige Schüler*innen soll es 150 Euro Computergeld geben, wem sollen die etwas ermöglichen können? Glauben Sie, dass das Geld definitiv bei den Kindern ankommt und es nicht zu wenig ist?

Klingbeil: In dieser Krise wird auch offengelegt, welche Defizite wir im Bereich der digitalen Bildung haben. Das sage ich als jemand, der sich im Bundestag mit dem Thema Digitalisierung intensiv beschäftigt hat. Seit Jahren sagen Bildungspolitiker*innen parteiübergreifend, es muss etwas passieren, da gibt es riesige Chancen für die Schulen. Ich hoffe, dass das auch ein Learning aus der Krise sein wird. Akut geht es jetzt aber um Teilhabe, denn es gibt Schülerinnen und Schüler, die haben die notwendigen digitalen Endgeräte nicht, um von zu Hause aus zu lernen. Und diejenigen sollen jetzt einen Zuschuss bekommen, dafür stellt der Bund 500 Millionen Euro bereit. Ich gehe davon aus, dass die Länder, die ja eigentlich für Bildung zuständig sind, auf diese Summe noch etwas draufschlagen werden. Damit wird man eine ausreichende Erstausstattung für Schülerinnen und Schüler hinbekommen, sodass eine Grundversorgung erst mal sichergestellt ist.

Nicht nur Schüler müssen entlastet werden, Eltern die derzeit mehr belastet denn je sind, auch. Welche Ideen gibt es derzeit, um Eltern ihr Berufsleben zu ermöglichen, aber Kindergartenkindern sowie Grundschülern keiner zu hohen Gefahr auszusetzen?

Klingbeil: Hier gilt auch: Wir müssen uns Schritt für Schritt bewegen. Und für Eltern von Kita-Kindern bedeutet das vor allem, dass sie jetzt eine Perspektive bekommen müssen, wie es in den nächsten Wochen weiter gehen kann. Ich merke das in vielen persönlichen Gesprächen, die Belastung für Eltern ist wirklich wahnsinnig krass. Viele sind am Verzweifeln und ich habe da einen riesigen Respekt vor, wie man Homeoffice, Kinderbetreuung, einfach alles unter einen Hut kriegt. Und ich verstehe auch total, wenn Leute mir sagen, es kann doch nicht sein, dass wir Öffnungsdebatten über Möbelgeschäfte und Einkaufszentren führen, aber nicht über die Kitas geredet wird. Deswegen müssen wir über Zwischenschritte reden. Es ist gut, dass Franziska Giffey bei diesem Thema Druck macht und dass auch die Liste der systemrelevanten Berufe ausgeweitet wurde, sodass noch mehr Kinder eine Notbetreuung bekommen. Ich finde auch, dass in den Kitas großzügiger mit der Frage, ob ein Kind zur Notbetreuung kommen darf, umgegangen werden muss, wenn sich jetzt Eltern melden und sagen “Ich brauche Unterstützung!”. Wir müssen auch gucken, dass wir Familiennetzwerke zulassen, also wenn sich z.B. zwei oder drei Familien zusammenschließen und sagen: “Es ist immer der gleiche Kreis und wir bringen die Kinder einander vorbei und passen abwechselnd auf sie auf”, das kann ja schon mehr Entlastung bringen.

Glauben Sie, dass die psychischen Belastungen, die derzeit sehr extrem sind, nachfolgend traumatisch wirken können in der Bevölkerung?

Klingbeil: Ich finde, man muss das auf jeden Fall sehr ernst nehmen. Für manche ist diese Krise eine Chance, sie sprechen über Entschleunigung und wie toll das jetzt im Homeoffice sei, dass man mal wieder mehr Zeit habe. Aber es gibt auch sehr viele, die haben eine ganz andere Lebensrealität. Die haben Angst um ihren Job, dann noch zwei Kinder zu Hause in einer Zwei- bis Dreizimmerwohnung ohne Balkon oder Garten. Was diese Situation für viele Familien bedeutet, ist Wahnsinn. Dass dann auch die Zahlen zu häuslicher Gewalt ansteigen, muss uns zusätzlich besorgen. Da müssen wir fragen, was sind kluge Schritte zur Prävention, z.B. die Debatte über die Öffnung von Spielplätzen. Wir dürfen den Kindern nicht komplett die Möglichkeit nehmen, Kind zu sein. Ihre Position muss in der Politik stärker berücksichtigt werden. Natürlich können wir jetzt nicht sagen: “Wir machen alles auf, wir kehren zum Status quo vor der Krise zurück”. Wir wissen bis heute nicht, wie die Auswirkungen des Coronavirus auf Kinder sind und welche Rolle Kinder bei der Übertragung spielen. Wir müssen deshalb genau abwägen. Wir dürfen nicht so tun, als sei das Virus nicht da, denn nach wie vor ist es sehr gefährlich.

Die politische Debatte ist laut und lebendig, dabei könnte doch wertvolle Zeit für langfristiges, gutes Handeln verschwendet werden, oder?

Klingbeil: Ich finde es sehr wichtig, dass es diese Diskussionen gibt. Durch sie werden viele Dinge ja grundsätzlich in Frage gestellt. Viele lernen jetzt zu schätzen, was über Jahre ganz selbstverständlich war. Das fängt mit dem Bewusstsein darüber an, was offene Grenzen sind. Wer aus der jüngeren Generation hat denn noch geschlossene Grenzen in Europa erlebt? Oder man sieht, dass man nicht mehr die Bewegungsfreiheit hat im Alltag, dass man nicht einfach so Freunde treffen kann. Der Wert der Freiheit wird vielen jetzt bewusst. Ich glaube, das ist auch eine Chance, mal sehr grundlegend nachzudenken, wie wollen wir unser Leben als Gesellschaft nach der Krise neu gestalten.

Manche Politiker*innen zeigen sich gerade auf der großen Bühne nach dem Motto, schneller, lauter, beliebter. Glauben Sie, dies passiert auf Kosten der Bürger?

Klingbeil: Ich glaube, dass es am Ende auf Kosten des Vertrauens in Politik insgesamt passieren kann. Die Menschen erwarten von Politikern verantwortungsvolles Handeln und keine Profilierung. Ich habe lange überlegt, ob ich in der letzten Woche Herrn Laschet und Herrn Söder kritisiere für diese Überbietungswettbewerbe, die beide gerade abziehen. Da sitzen die Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin zusammen und einigen sich auf einen gemeinsamen Weg, und dann dauert es keine 24 Stunden bis der erste Ministerpräsident, meistens dann Söder oder Laschet, aus so einem Konsens ausbricht. Die Menschen wollen gerade jetzt nachvollziehen können, warum die Politik Dinge tut, wie sie sie tut, und sie wollen Geschlossenheit und keinen billigen parteipolitischen Streit.

Regierungssprecher Seibert, Finanzminister Scholz (SPD) Kanzlerin Merkel (CDU), Hamburgs Regierender Bürgermeister Tschentscher (SPD) und Bayerns Ministerpräsident Söder (CSU) vor einer Pressekonferenz zu Corona-Beschlüssen von Bund und Ländern am 15. April (Bild: Bernd von Jutrczenka/Pool via Reuters)
Regierungssprecher Seibert, Finanzminister Scholz (SPD) Kanzlerin Merkel (CDU), Hamburgs Regierender Bürgermeister Tschentscher (SPD) und Bayerns Ministerpräsident Söder (CSU) vor einer Pressekonferenz zu Corona-Beschlüssen von Bund und Ländern am 15. April (Bild: Bernd von Jutrczenka/Pool via Reuters)

Viele SPD-regierte Länder scheinen die Krise durchzustehen, schaue man zum Beispiel auf Ministerpräsidentin Maul Dreyer und Rheinland-Pfalz. Wieso sind diese Vorgehensweisen so wenig präsent in der Debatte?

Klingbeil: Ich glaube vor allem, dass es damit zu tun hat, dass Ministerpräsident*innen wie Malu Dreyer, aber auch Manuela Schwesig oder Stephan Weil einfach ihren Job machen. Sie erklären unaufgeregt ihre Politik, sie sind mit den unterschiedlichen Gruppen im Dialog, sie versuchen, gute Lösungen zu finden. Am Ende zählt nicht, wer hatte die meisten Schlagzeilen in der “Bild”, sondern wer hat sein Bundesland am besten durch die Krise gebracht. Und da werden viele positiv darauf schauen, wie Malu Dreyer oder Stephan Weil agiert haben.

Welche Ideen hat die SPD für die Zeit nach, oder bereits während Corona, schaut man auf soziale Thematiken wie Pflege, Bildung oder Digitalisierung? Ist nicht jetzt die große Chance da?

Klingbeil: Auf jeden Fall dürfen diese Themen nach der Krise nicht in Vergessenheit geraten. Es reicht jetzt nicht, auf den Balkon zu gehen und für Pflegekräfte zu klatschen. Wir müssen dann auch konkret werden und gucken, dass wir diese Berufe besser bezahlen, dass sie einen vernünftigen Tarifvertrag bekommen. Wir müssen jetzt auch zusehen, dass wir die Grundrente zügig im Bundestag beschließen. Die Union versucht gerade schon wieder, zu verzögern. Wir wollen, dass die Menschen, die ihr Leben lang im Niedriglohnsektor gearbeitet haben, und das sind viele der jetzt in der Krise systemrelevanten Berufe, eine vernünftige Rente bekommen. Da wird es wirklich darauf ankommen, jetzt Entscheidungen zu treffen, die Pflegekräften, Erzieher*innen und Kassierer*innen zu Gute kommen. Wir stehen nicht nur auf dem Balkon und klatschen, sondern wir sorgen auch im Bundestag dafür, dass diese Berufe mehr Geld und Anerkennung bekommen.

Saskia Esken hat sich für die Aufnahme minderjähriger Flüchtlinge eingesetzt. Was ist der nächste Schritt?

Klingbeil: Wir haben im Koalitionsausschuss gerungen und es war wirklich nicht einfach. Aber uns als SPD war wichtig, dass wir ein klares Signal setzen: In diesen Corona-Zeiten, in denen gefühlt jedes Land nur auf sich guckt, vergessen wir die Menschen, die in den Flüchtlingslagern in Griechenland sitzen, nicht. Die ersten Jugendlichen sind jetzt nach Deutschland gekommen, wir haben aber vereinbart, einige Hundert Schutzbedürftige aufzunehmen. Dementsprechend sind die 47, die jetzt nach Niedersachsen gekommen sind, nur der Anfang. Und ich ärgere mich, dass man solche Entscheidungen mit acht oder neun europäischen Ländern trifft, und am Ende sind es Deutschland und Luxemburg, die Wort halten. Also auch in Europa müssen wir weiter Druck machen. Ich frage mich, warum Frau von der Leyen als Kommissionspräsidentin so leise ist. Eigentlich müsste sie bei den Staats- und Regierungschefs darauf drängen, dass europäische Solidarität jetzt konkret gelebt wird. Es ist gut, dass einige Europa-Abgeordnete, wie z.B. Erik Marquardt oder Katarina Barley, darauf drängen, dass wir Flüchtlinge aus den griechischen Lagern rausholen und aufs Festland in die Hotels, die gerade leer stehen, bringen. Das wäre ein Perspektive für die völlig überfüllten Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln. Ich finde, es ist unsere humanitäre Pflicht, sich um die Menschen zu kümmern.

Die große Debatte um die Normalität beschäftigt alle. Was glauben sie persönlich, welcher Weg ist langfristig das Beste für die Bevölkerung?

Klingbeil: Ich glaube, wir werden nicht zu einer Normalität zurückkehren, wie wir sie vor der Krise hatten. Es wird sich gesellschaftlich viel verändern. Der Staat wird in seiner Bedeutung wachsen und ich glaube, dass wir eine Diskussion über mehr Gemeinwohl führen müssen. Und wenn wir jetzt über schnelle Lockerungen der Corona-Beschränkungen diskutieren, müssen wir uns auch bewusst sein, dass wir alle eine große Verantwortung für die Ausbreitung des Virus tragen. Keiner kann wollen, dass Ärzt*innen vor der Frage stehen, wen sie eigentlich schützen in dieser Situation, ob sie jetzt dem 40- oder 80-Jährigen das Beatmungsgerät aufsetzen. Wir müssen vernünftig sein und dürfen das Gesundheitssystem mit einer übereilten Lockerung nicht überfordern. Wir müssen weiter Abstand halten und dann auch Masken tragen. Die Verantwortung liegt bei jedem Einzelnen, aber die Politik muss die Richtlinien geben. Die Politik muss Entscheidungen treffen, die sie im Nachhinein nicht bereut. Sie muss vor allem erklären, warum sie diese Schritte geht.

Wenn die Pandemie bis 2021 läuft, sollte man dann die Bundestagswahl verschieben?

Klingbeil: Ich bin guter Dinge, dass wir das nicht müssen. Was uns als Partei aber schon jetzt beschäftigt ist, wie man Wahlkampf ohne große Veranstaltungen mit Menschenmassen führt. Wir müssen vermehrt auf digitale Formate setzen und da neue Wege gehen.

Ist in einer wirtschaftlichen schwierigen Lage die Zeit für einen sozialen SPD-Kanzler gekommen?

Klingbeil: Die Krise bietet die Möglichkeit, genau zu schauen, ob wir als Gesellschaft in den letzten Jahre alles richtig gemacht haben. Oft stand der ökonomische Druck im Vordergrund, nicht das Gemeinwohl. Wir haben aus jedem Bereich des gesellschaftlichen Lebens das letzte bisschen Effizienz versucht raus zu quetschen. Deswegen glaube ich, dass es jetzt Zeit für mehr Gemeinwohl und für einen handlungsfähigen Staat ist, und dass die SPD klug beraten ist, wenn wir nach vorne stellen, dass das seit 156 Jahren unsere DNA ist.

Video: So reagieren Bürger auf die neue Maskenpflicht