Isolation und Folter: Belarussische Aktivistin über Zeit hinter Gittern

Isolation und Folter – so beschreibt Amnesty International die Haftbedingungen der politischen Gefangenen in Belarus. Die belarussische Oppositionelle Natallia Hersche hat das am eigenen Leib erfahren. Jetzt, wo sie wieder frei ist, kämpft sie dafür, dass die 1.400 Menschen, die aufgrund ihrer Ideen in Belarus hinter Gittern sitzen, nicht vergessen werden.

Euronews hat sie im ehemaligen Stasi-Gefängnis in Berlin getroffen, bei einer Veranstaltung, die politisch inhaftierten Frauen gewidmet war.

"Die Gebäude schreien nach Leid"

"Die Gebäude schreien nach Leid", bemerkt Natallia, als sie die Gedenkstätte mit ihrem Gefängnis in Belarus vergleicht. Ein kellerartiger Geruch durchströmt den Innenhof des Geländes. Dieser Ort hat das Elend all dieser Jahre aufgesaugt. Die kargen Betonwände lassen erahnen, was einst dahinter geschah. Der Gedanke daran, dass in diesem Moment Tausenden Gefangenen in Belarus das Gleiche widerfährt, lässt einen erschaudern.

"Das hat mich sehr gewundert. Wie kann man im 21 Jahrhundert so was mit Menschen anrichten", sagt Natallia, als sie anfängt, ihre Geschichte zu erzählen.

Dass die kleine, zierliche Frau mit schulterlangen blonden Haaren eineinhalb Jahre belarussisches Gefängnis unter schwersten Bedingungen hinter sich hat, ist fast unvorstellbar.

Am 19. September 2020 nimmt sie an einem friedlichen Protest in Belarus teil, der für immer ihr Leben verändert. Zusammen mit dutzenden anderen Frauen demonstriert sie gegen die gefälschte Wahl des belarussischen Präsidenten, Alexander Lukaschenko. Als Natallia auf den Straßen von Minsk für "freie und faire" Wahlen kämpft, wird sie von einem belarussischen Polizeibeamten festgenommen und ins Gefängnis gebracht. Weil sie versucht, seine Haube abzuziehen, wird sie zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.

Das Stasi-Gefängnis
Das Stasi-Gefängnis - Diana Resnik, Berlin

Zunächst kommt sie in Untersuchungshaft. Dann wird sie in die Strafkolonie in Homel und später nach Mogiljow gebracht. Die Haftbedingungen in belarussischen Gefängnissen sind hart. Sie sitzt zusammen mit 120 anderen Frauen ein. Es gibt nur sechs Toiletten, ohne jegliche Privatsphäre.

Alles wurde so gemacht, dass du mit Stress aufstehst und mit Stress schlafen gehst.

"Alles wurde so gemacht, dass du mit Stress aufstehst und mit Stress schlafen gehst", erzählt Natallia. Ohne Aufforderung dürfen die Frauen nicht aufstehen, sonst droht die Strafzelle.

Weil Natallia sich weigert, Uniformen für das belarussische Regime zu nähen, wird sie für 46 Tage in eine eineinhalb Meter breite Zelle gesteckt.

"Das war Folter"

"Das war Folter. Also, ganz klar", erzählt Natallia. Schützend hält sie ihre Hände überkreuz, was sie sehr zerbrechlich erscheinen lässt. "Die Temperatur in der Zelle war so niedrig, du konntest nicht schlafen während der Nacht. Und es war keine Bettwäsche da."

Die Strafzelle, die in Belarus auch SHIZO genannt wird, ist "ein Gefängnis innerhalb eines Gefängnisses", erklärt Natallia. Die Bedingungen sind sehr viel härter als in Einzelhaft. In der Mitte der Zelle stehen zwei Hocker. Auf der Seite ist ein Klappbrett aus Holz angebracht, das als Bett dienen soll. Eine Matratze oder gar Bettwäsche gibt es nicht.

"Es war kalt. Man konnte nur vielleicht zehn Minuten die Augen zumachen und dann musste man wieder aufstehen, um sich warm zu halten."

In dieser Zeit hat sie sich auch eine Verletzung am Fuß zugefügt. Doch das merkt sie erst, nachdem sie aus dem Gefängnis rauskommt. Mehrmals beschwert sie sich in der medizinischen Abteilung, doch keiner hilft.

Das Stasi-Museum
Das Stasi-Museum - Diana Resnik, Berlin

Damals lernte sie, wie stark sie wirklich ist. "Ich war im Kampfmodus", erzählt Natallia. Nur ihre Augen verraten, was sie alles durchstehen musste.

Um sie zu brechen, wird Natallia von der Außenwelt isoliert. Briefe, die sie an ihre Freunde und Familie schreibt, werden weggeschmissen. Das Ziel: Sie soll glauben, alle hätten sie vergessen.

Was ihr geholfen hat, die Strafzelle zu überstehen? "Ich habe gesungen", erzählt Natallia, während ein großes, weites Lächeln ihr sonst sehr nachdenkliches Gesicht erhellt.

"Das war so: Im Karzer, da war im gleichen Gebäude eine andere politische Gefangene, und per Gesang haben wir unsere Emotionen ausgetauscht", erzählt Natallia.

Wenn sie gesungen hat, dann habe ich geweint. Wenn ich gesungen habe, kamen bei ihr traurige Emotionen auf.

"Wenn sie gesungen hat, dann habe ich geweint. Wenn ich gesungen habe, kamen bei ihr traurige Emotionen auf."

Dann muss sie ganze zehn Monate in Einzelhaft verbringen. Nicht so brutal wie im Karzer, erinnert sie sich. Dort konnte sie wenigstens Bücher bestellen. "Ohne Bücher wäre es wie im Irrenhaus“, erzählt sie.

In Gedanken entkommt sie dem Gefängnis

"Es gab wenig Gründe zu lachen", erinnert sie sich. Mit ihrer Fantasie hat sie sich über die harten Zeiten hinweggeholfen. "Ich habe neben dem Fenster gestanden. Es war Sommer. Und ich habe mir einen Rettungshubschrauber vorgestellt. Es war so kindisch. Ich habe mir vorgestellt, dass er kommt und ein Seil für mich runterwirft, und ich hänge mich daran, und er fliegt mich weg."

In ihren Gedanken ist Natallia oft in ihre Vergangenheit gereist.

"Ich habe die Augen zugemacht und ich war dort. Ich war ein kleines Kind, fünf Jahre alt. Ich habe gespürt, wie weich das Gras war. Das hat mir so viel Stärke gegeben."

Lukaschenko um Gnade zu bitten, kommt nicht in Frage

Während sie zu Beginn ihrer Haft noch Hoffnung auf frühzeitige Freilassung hat, lernt Natallia mit der Zeit, sich mit ihrer zweieinhalbjährigen Gefängnisstrafe abzufinden. Ein Begnadigungsgesuch von Lukaschenko anfragen will sie nicht. "Ich wollte meine Werte nicht verkaufen", sagt sie.

"Für mich war es besser, zwei Jahre abzusitzen und mich dann weiter in meinem friedlichen Leben gut zu fühlen, statt mich selbst anzulügen", erklärt Natallia.

Bis zum Ende ihrer Haftstrafe muss Natallia aber doch nicht warten. Sie besitzt neben der belarussischen auch die schweizerische Staatsbürgerschaft. Weil sich die Schweiz für sie eingesetzt hat, ist sie schon früher, nach eineinhalb Jahren Gefängnis freigekommen.

In ihrer Gefängnisuniform, bestehend aus einer Wattejacke und einem khakifarbenen Rock, wird Natallia zum Flughafen in Minsk gebracht, direkt in die VIP-Abteilung.

Der lange Weg zurück ins normale Leben

Danach muss sie sich erst wieder an das Leben in Freiheit gewöhnen. Sie braucht ein Jahr, um mit psychologischer Hilfe ihre Erfahrungen zu verarbeiten. Ein weiteres Jahr dauert ihr Wiedereingliederungsprozess.

In dieser Zeit beschäftigt sich Natallia intensiv mit Kunst. Sie zeichnet. Am liebsten Menschen, Gesichter und all das, was man da ablesen kann. "Wenn ich Menschen zeichne, und dann sehe ich die Reaktionen der Menschen. […] Das macht mir Freude."

Zeichnung einer Frau aus dem Gefängnis in Belarus.
Zeichnung einer Frau aus dem Gefängnis in Belarus. - Natallia Hersche

Sie ist jetzt frei, doch der Gedanke an die politischen Aktivisten, die weiterhin in Belarus im Gefängnis sitzen, lässt sie nicht los.

Das Ausland muss Druck auf Lukaschenko ausüben

Beim jüngsten Gefangenenaustausch zwischen Russland und westlichen Ländern sind keine belarussischen politischen Gefangenen freigekommen. "Wenn niemand diese Fälle präsent macht in demokratischer Öffentlichkeit, und niemand macht Druck auf Diktatoren, dann passiert auch nichts. Die Menschen sterben dort", bemerkt sie, als sie es mit ihrer Situation und der Hilfe aus der Schweiz vergleicht.

Wenn niemand Druck auf Diktatoren macht, dann passiert auch nichts. Die Menschen sterben dort

Natallia sieht starken Handlungsbedarf. "Ich glaube, dass die demokratische Welt sich wirklich Mühe geben muss, um alle politischen Gefangenen rauszukriegen", sagt sie.

Ohne eine Intervention von außen kommen die politischen Gefangenen in Belarus nicht frei. "Die politischen Gefangenen, das sind die schlimmsten Menschen für eine Diktatur. Warum soll man sie rauslassen? Sie werden wahrscheinlich, wenn sie das Land verlassen, auch aktiv werden. Also, es ist eine sehr große Gefahr für eine Diktatur."

Alle politischen Gefangenen in Belarus müssen freikommen, das steht für Natallia fest. "Das geht, glaube ich, nur durch Sanktionen", betont sie mit Nachdruck. Das Wichtigste: Die Sanktionen müssen ganz klar gegen die Repressionen der politischen Gefangenen in Belarus gerichtet sein.

Natallias Traum

Als sie zum Ende ihres Vortrags kommt, hellt sich ihr mal ernstes, mal von Schmerz erfülltes Gesicht auf. Es wird klar: Trotz Isolation und Folter ist sie wieder im normalen Leben angekommen.

"Ich hatte nie Gefängnisträume", erzählt sie. "Aber etwa ein halbes Jahr nach meiner Freilassung habe ich davon geträumt."

"Es war ein friedlicher Traum. Ich bin in einem Gefängnis in Belarus. Ich verstehe nicht, warum. Ich wurde doch entlassen. Warum bin ich dort? Und das Gefängnis ist ganz anders. Es ist freundlich. Es scheint die Sonne, überall wächst grünes Gras. Ich gucke mir den Zaun an und er ist nicht so groß. Wenn ich einen großen Stock hätte, ich könnte ihn ganz leicht überspringen. Eine Delegation nähert sich mir von der anderen Seite und Lukaschenko ist dabei. Ich habe auf ihn eingeredet und er hat die Augen auf die Erde gerichtet und mir nur zugehört. Ich habe ihm alle Beschwerden mitgeteilt. Schweigend entfernt sich die Delegation. Ich gucke aus einer Ecke hervor und ich sehe, er steht und weint. Lukaschenko."