Junge Familie oder kranke Seniorin: BGH prüft Eigenbedarf

Sorgen, seine Wohnung zu verlieren, gibt es viele: Kündigungsschreiben wegen Eigenbedarfs. Foto: Stephan Jansen
Sorgen, seine Wohnung zu verlieren, gibt es viele: Kündigungsschreiben wegen Eigenbedarfs. Foto: Stephan Jansen

Bei Eigenbedarf hat der Mieter normalerweise wenig Chancen. Es sei denn, es ist ein Härtefall. Muss eine demente Berliner Seniorin für eine junge Familie die Wohnung räumen? Das höchste deutsche Zivilgericht soll entscheiden.

Karlsruhe/Berlin (dpa) - Ein Paar wohnt in einer Zweizimmerwohnung. Es kommt Nachwuchs, mit zwei Kindern wird es eng. Die junge Familie will in die vor kurzem gekaufte 73 Quadratmeter große Dreizimmerwohnung in Berlin ziehen. Doch da wohnt eine 80-Jährige. Ihr halbes Leben lang schon.

Der Mieterin wurde Demenz attestiert. Sie will nicht raus und wehrt sich gegen die Eigenbedarfskündigung. Wer braucht dringender die Wohnung? Darüber und über einen weiteren Fall entscheidet der Bundesgerichtshof (BGH) am 22. Mai.

Aus Sicht des Landgerichts Berlin ist die Eigenbedarfskündigung gegen die alte Dame wirksam. Doch räumen muss sie die Berliner Wohnung demnach trotzdem nicht. Die Seniorin, die dort mit zwei über 50 Jahre alten Söhnen lebt, fände sich woanders vielleicht nicht mehr zurecht. Außerdem ist bezahlbarer Ersatz in Berlin rar. Das Berliner Gericht sieht einen Härtefall. Mit der Revision vor dem BGH will der Vermieter - der Familienvater - nun die Räumung durchsetzen (VIII ZR 180/18).

Der zweite Fall spielt in einem 9000-Einwohner-Ort in Sachsen-Anhalt. In Kabelsketal wehren sich zwei Mieter gegen den Rausschmiss aus einer Doppelhaushälfte. Die Eigentümerin meldete Eigenbedarf an: Sie will mit ihrem Lebensgefährten einziehen - ursprünglich, um die pflegebedürftige Großmutter in der Nähe besser zu unterstützen.

Inzwischen ist die Oma tot. Die Mieter, die seit 2006 mit zwei Verwandten in dem Haus wohnen, sehen den Eigenbedarf vorgeschoben. Auch halten sie einen Umzug aufgrund schwerer Erkrankungen für nicht zumutbar. Angeführt werden Parkinson, Depression, chronische Wirbelsäulenbeschwerden, 50-prozentige Behinderung sowie eine Pflegestufe II und Alkoholkrankheit. Das Landgericht Halle hält den Umzug dennoch für zumutbar. Dagegen haben die Mieter Revision eingelegt (VIII ZR 167/17).

Zwei Fälle, die das höchste deutsche Zivilgericht nun zum Anlass nimmt, eine Regelung unter die Lupe zu nehmen: die Härtefall-Klausel bei Eigenbedarfskündigungen. Nach dem Gesetz kann ein Vermieter einem Mieter kündigen, wenn er Eigenbedarf für sich, seine Familie oder Angehörige seines Haushalts geltend macht. Der Mieter kann sich dagegen unter Verweis auf einen Härtefall wehren.

Doch wann ist das der Fall? Laut Gesetz zum Beispiel, wenn eine angemessene Ersatzwohnung nicht zu zumutbaren Bedingungen beschafft werden kann. Nach Ansicht von Ulrich Ropertz, Geschäftsführer beim Deutschen Mieterbund (DMB), müssten auch Kriterien wie hohes Alter und Krankheit grundsätzlich schwerer wiegen als Vermieterinteressen.

Bei schwerer Krankheit und Demenz haben Mieter auch aus Sicht von Beate Heilmann, Wohnrechtsexpertin beim Deutschen Anwaltverein, gute Karten. Dies bedeutet aber für sie nicht, dass Alt immer Jung sticht: «Wenn ein 65-Jähriger drei Mal die Woche schwimmen und Sport treiben kann, kann er auch umziehen.» Das sieht der BGH offenbar ähnlich: «Es gibt auch 80-jährige Marathonläufer», so die Vorsitzende Richterin Karin Milger bei der mündlichen BGH-Verhandlung. Aber, so betont sie, es gibt ebenso Menschen, denen es schon mit Anfang 60 schlecht geht.

Angesichts von Wohnungsnot und immer mehr älteren Mietern bereitet die Härteklausel Gerichten zunehmend Probleme. Der BGH sieht deshalb die Tendenz, dass viele Fälle schematisch und «nicht in gebotener Tiefe» gelöst werden. Dem will er einen Riegel vorschieben.

Mieterbund-Geschäftsführer Ropertz geht von derzeit 80.000 Eigenbedarfskündigungen im Jahr aus und kritisiert: «Die Gerichte haben in den letzten Jahren die Eigenbedarfskriterien stark aufgeweicht.»

Der Präsident von Haus & Grund Deutschland, Kai H. Warnecke, warnt hingegen vor «einseitiger Stimmungsmache». Ihm zufolge gehen Streitigkeiten zu Wohnraummietsachen - dazu zählen Eigenbedarfskündigungen - kontinuierlich zurück. So seien 2017 mit 217.801 Fällen 18 Prozent weniger als vier Jahre zuvor vor Gericht verhandelt worden.

Wenn Gerichte nicht gründlich Härtefälle prüfen, bedeutet das aus Sicht von BGH-Richterin Milger für alle Seiten: «Steine statt Brot.» Niemandem ist am Ende dann wirklich geholfen. Potenzielle Käufer, die eine Wohnung irgendwann mal selbst nutzen wollen, müssen nach Erfahrung von Verbandspräsident Warnecke jedenfalls bereits beim Kauf eines im Blick haben: «Dass Eigenbedarf nicht immer ganz einfach umsetzbar ist.»