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Die jungen Milden: Eine Generation von Nachwuchspolitikern wollte den Bundestag verändern – und landete in der Realität

Muhanad Al-Halak (FDP), Rasha Nasr (SPD) und Max Lucks (Die Grünen) - Copyright: © Getty Images, diegograndi; picture alliance / Flashpic, Jens Krick; Dominik Konrad
Muhanad Al-Halak (FDP), Rasha Nasr (SPD) und Max Lucks (Die Grünen) - Copyright: © Getty Images, diegograndi; picture alliance / Flashpic, Jens Krick; Dominik Konrad

Eigentlich hätte Muhanad Al-Halak (FDP) niemals Waffenlieferungen zugestimmt, weil er den Krieg selbst im Irak miterleben musste. Er weiß noch, wie er sich als Elfjähriger vor dem Geräusch der Schüsse fürchtete, er weiß, was es heißt, wenn Granaten und Raketen ganze Häuser zerstören. Es sind Bilder, die mit aller Macht zurückkommen, als er am Morgen des 24. Februar vom russischen Angriff auf die Ukraine erfährt. Und der Tag bringt weit mehr als alte Erinnerungen hoch – er bricht auch mit der alten Gewissheit des jungen FDPlers. Von da an glaubt Al-Halak nicht länger, dass sich ein Krieg nur waffenfrei verhindern lässt. 

Fast zwei Monate später, am 27. April, stimmt der FDP-Politiker deshalb für die Waffenlieferungen an die Ukraine. "Ich hatte bei keiner Abstimmung so viel Druck, weil die Verantwortung als Abgeordneter und gegenüber anderen verbündeten Ländern plötzlich so spürbar war. Hätte mein vergangenes Ich gesehen, dass mein Zukunft-Ich im Parlament für Waffenlieferungen die Hand hebt, ich hätte mir einen Vogel gezeigt", sagt der 33-jährige Al-Halak.

Von einer Wandlung wie seiner berichten viele junge Abgeordnete aus der Ampel-Koalition. Sie waren mit ihren persönlichen Idealen und Gewissheiten dafür angetreten, in der vermeintlich progressiven Koalition die Politik und das Land zu verändern. Auch junge Wähler hatten möglicherweise auf zahlreiche Verfechter für Anliegen wie Generationengerechtigkeit gesetzt. Doch die vergangenen neun Monate waren für die Jungen ein Ankommen in der Realität.

Business Insider hat mit jungen Abgeordneten von SPD, Grünen und FDP gesprochen. Manche reden offen, andere lieber anonym über ihre Erfahrungen als Politiker. Und darüber, was es heißt, sich im Alltag des Politikbetriebs zu beweisen – entgegen der eigenen Ideale.

Den SPD-Neulingen wurde zu Beginn das größte "Revolutionspotenzial" im Bundestag zugeschrieben

Besonders groß waren die Erwartungen an die jungen Abgeordneten der SPD. 104 Abgeordnete sind erstmals im Bundestag vertreten, die Fraktion besteht nun zur Hälfte aus Parlamentsneulingen. Ganze 49 Abgeordnete waren zum Zeitpunkt der Wahl jünger als 35 Jahre, zählen also zu den Jusos, dem besonders weit linksstehenden Jugendverband der Partei. Mancher sah darin bereits eine eingeschworene Mannschaft unter Kapitän Kevin Kühnert – einst gefürchteter Juso-Chef, mittlerweile SPD-Generalsekretär –, bereit, die Ampel-Koalition zu entern. „Es sind 49 Jusos in der neuen SPD-Fraktion, das ist die Sperrminorität der neuen Regierung“, twitterte der jetzige CDU-Chef Friedrich Merz.

Für ihre Wahlkampagne hat Rasha Nasr (SPD), 29 Jahre, einen Cupcake für jedes Thema gebacken. Hier für das Thema "Bezahlbares Wohnen".
Für ihre Wahlkampagne hat Rasha Nasr (SPD), 29 Jahre, einen Cupcake für jedes Thema gebacken. Hier für das Thema "Bezahlbares Wohnen".

Doch der Wind des Aufbegehrens ist schnell verflogen. "Eine große Revolution war nie unser Anspruch", sagt etwa Rasha Nasr (SPD), die zu den 49 jüngeren Abgeordneten zählt und für die sächsische SPD in den Bundestag einzog. Dabei gibt sie auch offen zu, dass sie sich als Parlamentsneuling erstmal einmal in die Arbeit als Abgeordneter einfinden musste: "Wir müssen das Spiel im Parlament erstmal lernen, bevor wir die Regeln ändern können", sagt die 30-Jährige. Damit macht die junge SPDlerin aus Dresden auch klar: Jung bedeutet nicht automatisch wild und krawallig, weder bei der SPD und erst recht nicht bei FDP und Grünen.

FDPler Al-Halak: "Wir müssen nicht laut schreien oder aggressiv auftreten, um rebellisch zu sein”

Denn tatsächlich haben sich viele junge Ampel-Abgeordnete eher in den Politikbetrieb integriert, statt ihn verändern zu wollen: „Ich arbeite lieber vertrauensvoll in Ausschüssen mit den anderen Parteien zusammen oder befrage zuständige Staatssekretäre schriftlich zu meinen Themen, als nach außen gegen sie zu schießen“, sagt beispielsweise FDPler Philipp Hartewig, der zum ersten Mal für die FDP im Bundestag sitzt und den Wahlkreis Mittelsachsen vertritt.

Dabei scheinen die jüngeren Abgeordneten auch Angst davor zu haben, ihr Standing in der Fraktion und in der Ampel mit einem unüberlegten Auftritt zu verspielen: „Wir müssen nicht laut schreien oder aggressiv auftreten, um rebellisch zu sein“, sagt Muhanad Al-Halak. Sonst lande man schnell in der Schublade: ‚Der Junge hat keine Ahnung, sondern schreit einfach ohne Lösung.‘

Manch einer hat auch schon einen Dämpfer bekommen. Der SPD-Abgeordnete Erik von Malottki aus Mecklenburg-Vorpommern eckte gleich zu Beginn der Legislatur mit einigen Forderungen an. Das ein oder andere erfahrene Fraktionsmitglied spottet über sein lautstarkes Auftreten zu Beginn. Malottki selbst gestand im Fernsehsender ntv.de inzwischen kleinlaut: „Mittlerweile kenne ich meine Grenzen und die ungeschriebenen Gesetze des Bundestages.“

Über Sachpolitik verdienten sich einige junge Abgeordnete ihren Respekt in der Fraktion

Im Gegensatz zu von Malottki haben sich einige seiner jungen Bundestag-Kollegen ihren Respekt in der Fraktion schon erarbeitet – und das vor allem durch Sachpolitik. Darunter auch Muhanad Al-Halak.

Den Förderstopp von Wasserkraftanlagen wollte der Liberale nicht akzeptieren. Im Umweltausschuss habe er deshalb gegen Christian Kühn, Staatssekretär des Bundesumweltministeriums, argumentiert, dass man in der Zeit des Ukraine-Kriegs nicht auf Strom verzichten sollte, der in Deutschland produziert werde, so erzählt es Al-Halak, der gelernte Abwassermeister ist. „Er hat einen Wissenschaftler in den Ausschuss gebracht, der sich am Ende nur noch versucht hat, gegen meine Argumente zu wehren“, sagt der 33-Jährige. Am Ende habe er beide von seiner Position überzeugen können, sagt Al-Halak und fügt dann an: „Das ist mir eine Ehre.“ In der Fraktion trägt der FDP-Politiker seither nur noch den Namen “Aquaman”.

Einen Namen hat sich aber auch der grüne Außenpolitiker Max Lucks gemacht. Demnächst muss die Bundesregierung auf seinen Antrag hin ein geheimes Militärabkommen mit Kolumbien offenlegen und neu bewerten lassen. Unterzeichnet sei das Abkommen noch unter Ex-Kanzlerin Merkel worden, obwohl das kolumbianische Militär und die Polizei zu diesem Zeitpunkt bereits regelmäßig für Menschenrechtsverletzungen in der Kritik gestanden hätten, sagt Lucks. Dabei ist der erfolgreich beschlossene Antrag für ihn auch ein Beweis dafür, was man als Jung-Politiker erreichen kann: „Alter und Erfahrung allein ist kein Kriterium, um den politischen Betrieb aufmischen zu können“, sagt er.

Bundestagsneulinge
Bundestagsneulinge

Fakt ist aber auch: Max Lucks gehört in seiner Fraktion bislang eher zur Ausnahme. Aus den Kreisen der älteren Grünen-Fraktion heißt es, vielen grünen Neulingen sei es bisher schwergefallen, richtig aufzudrehen. Während sie im Wahlkampf von einer Einzelkampagne profitiert hätten, die auf sie persönlich zugeschnitten gewesen sei, müssten sie sich im Parlament plötzlich als eine oder einer von vielen beweisen.

Krieg und Krise machen eine Revolution schwierig – viele junge Politiker zwingt das zur Disziplin

Doch für eine große Revolution der jungen Abgeordneten gab es auch denkbar schlechte Startchancen. Der Krieg in der Ukraine sorgte dafür, dass sich die Koalition harten Realitäten und Zwängen stellen musste. Statt um Klimaschutz ging es auf einmal um Versorgungssicherheit. Inzwischen produzieren auf Betreiben der Bundesregierung wieder Kohlekraftwerke Strom, auch Atomkraftwerke sollen länger laufen. Die Krise zwingt zum Pragmatismus.

Für viele der jungen Neulinge im Bundestag war das Sondervermögen für die Bundeswehr dabei ein Realitätscheck, inwieweit sich die eigenen Ideale mit den aktuellen politischen Herausforderungen vertragen: "Auch wenn die Bundeswehr bislang sträflich vernachlässigt wurde – das Sondervermögen hat mir als Progressive erstmal einen Stich versetzt", sagt etwa SPD-Politikerin Rasha Nasr. Für sie sei wichtig gewesen, dass es nicht aus dem Haushalt finanziert werde, damit ja keine anderen wichtigen, sozialen Projekte wegbrechen würden.

SPD-Politikerin Rasha Nasr: „Wir können nerven, wenn wir was wollen"

Doch trotz ihres bislang verhältnismäßig unscheinbaren Auftritts, ignorieren sollte man die Jungen nicht. Rasha Nasr stellt klar: „Wir können nerven, wenn wir was wollen.“

Dabei schickt sie auch eine Drohung an den FDP-Finanzminister: „Sollte Christian Lindner nicht bereit sein, einer Neuberechnung der Regelsätze beim neuen Bürgergeld zuzustimmen, dann bekommen wir ein Problem miteinander. Ich bin gerne bereit, einen Aufstand zu organisieren.“ Das Momentum der jungen Revoluzzer könnte also noch kommen.