Nach Austrittswelle - Beben bei Grüner Jugend: „Für die Partei ist das ein schwerer Schlag“

Die Spitze der Grünen Jugend zieht die Reißleine (Archivbild).<span class="copyright">Kay Nietfeld/dpa</span>
Die Spitze der Grünen Jugend zieht die Reißleine (Archivbild).Kay Nietfeld/dpa

Der Bundesvorstand der Grünen Jugend hat nicht nur seinen Rückzug, sondern auch den Parteiaustritt angekündigt. Zahlreiche Landesvorstände der Jugendorganisation ziehen nach. Kommt jetzt eine neue, linke Bewegung?

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Manche Medien schreiben von einer „Welle“, andere von einem „Beben“, das nicht aufhört. Klar ist in jedem Fall: Was gerade bei der Grünen Jugend passiert, sorgt für Aufsehen.

Nachdem in der vergangenen Woche der Bundesvorstand der Nachwuchsorganisation nicht nur seinen Rück-, sondern auch den Parteiaustritt verkündete, ziehen zahlreiche Landesvorstände nach.

Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Bayern, Rheinland-Pfalz - in all diesen Bundesländern erklärten Vorstandsmitglieder der Grünen Jugend ihre Parteiaustritte. Auch Teile der Brandenburger Spitze schlossen sich an.

„Das muss bei den Grünen große Sorge auslösen“

„Für die Grünen ist das ein schwerer Schlag. Sie waren bei den jungen Erwachsenen immer besonders erfolgreich“, sagt Frank Brettschneider im Gespräch mit FOCUS online.

Brettschneider ist Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit politischer Kommunikation, vor allem Wahlforschung.

Viele jüngere Menschen haben jetzt offenbar genug von den Grünen. Das zeigt nicht nur der Blick auf die Ergebnisse der Europawahl im Juni dieses Jahres. Die Grünen kamen insgesamt auf 11,9 Prozent der Stimmen.

Bei den Unter-25-Jährigen verloren sie im Vergleich zur Wahl 2019 ganze 23 Prozentpunkte . Auch bei der jüngsten Landtagswahl in Brandenburg liefen den Grünen die 16- bis 24-Jährigen in Scharen davon. 21 Prozentpunkte weniger als 2019 - die Zahlen sind eindeutig.

Dass sich jetzt auch noch zahlreiche Vertreter der Grünen Jugend von ihrer Partei abwenden, „muss bei den Grünen große Sorge auslösen“, sagt Brettschneider. „Es geht um die Zukunftsfähigkeit der Partei.“

Ex-Bundesvorstand der Grünen Jugend nennt Gründe für Entscheidung

Warum der eigene Nachwuchs der Partei den Rücken kehrt, dafür gibt es viele Gründe. Katharina Stolla und Svenja Appuhn, die bisherigen Bundesvorsitzenden der Grünen Jugend, sprachen mit „Zeit online“ über ihre Entscheidung.

Appuhn sagte: „Viele von uns sind in den drei vergangenen Jahren Regierungsbeteiligung sehr enttäuscht worden.“ Sie zählte mehrere „Entfremdungsmomente“ auf, die für sie ausschlaggebend waren.

Darunter das Sondervermögen für die Bundeswehr, die „Abbaggerung“ von Lützerath, die Sparpolitik, die Menschen gerade in Krisenzeiten allein lasse, und die „heftigen Asylrechtsverschärfungen“.

Ganz ähnliche Töne kommen aus vielen Landesvorständen. Die achtköpfige, bayerische Spitze teilte in einem schriftlichen Statement mit: „Viele Entscheidungen, die Grüne in der Regierungsbeteiligung getroffen haben, sowie den aktuellen programmatischen, inhaltlichen und strategischen Kurs, können und wollen wir nicht länger mittragen.“

Rukia Soubbotina, bislang Teil der Doppelspitze der Grünen Jugend in Niedersachsen, erklärte: „Wir haben in den letzten Jahren wiederholt sehen müssen, wie die Grünen immer weiter davon abrücken, die soziale Frage in den Mittelpunkt zu stellen.“

Das sind nur zwei Beispiele. Die meisten Rück- und Austrittsbegründungen decken sich mit Appuhns Schilderungen.

Viele Mitglieder der Grünen Jugend sehen eigene Partei auf falschem Weg

Das bedeutet: Bei der Sozial-, Verteidigungs-, Umwelt- und der Asylpolitik sehen viele Vorstandsmitglieder der Grünen Jugend die eigene Partei auf dem falschen Weg. Und ziehen deshalb Konsequenzen.

Mit dem Gedanken, die Grünen zu verlassen, haben einige von ihnen wohl schon länger gespielt. „Aus Rücksicht auf die Landtagswahlen hat die Bundesführung der Grünen Jugend noch gewartet“, sagt Brettschneider.

Die Frage, die jetzt im Raum steht, ist: Was passiert mit den ganzen Jung-Grünen, die von ihrer Partei enttäuscht sind und ihr den Rücken kehren? Formiert sich eine neue Bewegung? Oder geht einfach jedes Ex-Mitglied einen individuellen, neuen Weg?

„Eine neue Bewegung halte ich für unwahrscheinlich. Zum einen waren solche Versuche in der Vergangenheit bei Wahlen nicht sonderlich erfolgreich, wie etwa die Klimaliste zeigt“, sagt Brettschneider.

„Zum anderen gibt es im linken politischen Spektrum mit der Links-Partei und dem Bündnis Sahra Wagenknecht auch noch andere Optionen. Dass sich dort eine weitere Gruppe etablieren kann, ist unwahrscheinlich.“

Auch Lang und Nouripour haben Rücktritte angekündigt

Gleichzeitig betont der Kommunikationswissenschaftler, dass die politische Linke schon immer gut darin war, „sich zu zersplittern“. Er hält es jenseits von Parteiaktivitäten für denkbar, dass sich einige Ex-Jung-Grüne auf ihr Engagement in Umwelt- oder Flüchtlingsprojekten konzentrieren werden.

Allerdings ist es nicht nur der Vorstand der Grünen Jugend, der sich auf Bundes- und vielfach auf Landesebene zurückzieht. Das „Grünen-Beben“ wiegt weit schwerer.

Denn auch die beiden Parteivorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour haben vor kurzem ihre Rücktritte bekanntgegeben. Ein mutiger Schritt - sagen die einen. Andere bezweifeln, dass die Grünen, die in vielen Umfragen nur noch auf um die zehn Prozent der Wählerstimmen kommen, mit diesem Manöver den Karren aus dem Dreck ziehen können.

Kommen die Grünen wieder aus dem Tief?

Immerhin ging dem Stimmungstief ein längerer Prozess voraus. Baerbocks Wahlkampf im Jahr 2021, der gespickt war von Plagiatsvorwürfen und Ungereimtheiten im Lebenslauf. Dann, als Teil der Ampel-Regierung, das umstrittene Gebäudeenergiegesetz aus dem Hause Habeck.

Öffentlich ausgetragener Streit mit den Koalitionspartnern. Und ein „Wechsel der in der Öffentlichkeit dominanten Themen – weg vom Klimaschutz, hin zum Ukraine-Krieg und zum Flüchtlingsthema“, sagt Brettschneider.

Ob und wie schnell die Partei wieder aus ihrem Loch herauskommt, hängt ihm zufolge von mehreren Faktoren ab. „Wie entwickelt sich die Themen-Konjunktur? Welche Personen werden das Erscheinungsbild der Grünen prägen? Wie geschlossen wird die Partei auftreten? Und wie verhalten sich die anderen Parteien?“

Brettschneider: Weitere Konflikte sind programmiert

Wie es mit der Grünen Jugend weitergeht, wird sich wohl Mitte Oktober zeigen. Denn vom 18. bis 20. Oktober trifft sich die Nachwuchsorganisation der Klimapartei zum Bundeskongress.

„Dann wissen wir, wer in den Vorstand der Grünen Jugend gewählt wird und wofür diese Personen stehen.“ Brettschneider glaubt, dass Konflikte zwischen der Bundespartei, die als Teil der Ampel-Koalition immer wieder Kompromisse eingeht, und der Jugendorganisation trotzdem nicht ausbleiben werden.

„Vor allem das Tempo beim Klimaschutz und die Verschärfung der Asylpolitik dürften Streitpunkte bleiben“, so der Kommunikationswissenschaftler.

Optimistisch schaut indes Hubert Kleinert in die Zukunft. Er ist Professor für Politik, Zeitgeschichte und Sozialwissenschaften an der Hessischen Hochschule für Öffentliches Management und Sicherheit in Gießen und war 1983 Mitglied der ersten Grünen-Bundestagsfraktion in Bonn.

Zu FOCUS online sagt er: „Wer aus den Grünen eine 'Klassenpartei' machen wollte, lag schon immer falsch. Ich glaube, diese Auftritte verbessern eher die Chancen für eine realpolitische Erneuerung.“