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Jäger der Geisterteilchen - Der Neutrino-Masse auf der Spur

«Eine schöne Maschine», sagt Hendrik Seitz-Moskaliuk. Der Physiker hat ein liebevolles Leuchten in den Augen.

Ganz so als habe er einen chromglänzenden Motorrad-Klassiker aus den 1960er Jahren vor sich und nicht das 200 Tonnen schwere Hauptspektrometer des Karlsruher Tritium Neutrino Experiments (Katrin). Mit seinen 24 Metern Länge, 10 Metern Durchmesser und 800 Quadratmetern Innenfläche beherbergt der zylindrische Riesentank den größten luftleeren Raum auf der Erde.

Mit seiner Hilfe wollen die Wissenschaftler des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) ab dem kommenden Jahr Neutrinos dingfest machen. Das sind ultraleichte Elementarteilchen, die so mühelos Materie durchdringen, dass sie kaum messbar sind, und die daher auch Geisterteilchen genannt werden.

Zahllos durchströmen sie das All und durchsieben uns zu jeder Sekunde mit nahezu Lichtgeschwindigkeit, wie Seitz-Moskaliuk sagt. Doch es bestehe keine Gefahr, beeilt sich der junge Physiker zu versichern: «Weil die Neutrinos nicht elektrisch geladen sind, gehen sie einfach durch uns hindurch.» Deshalb lassen sich die geisterhaften Elementarteilchen trotz ihrer Unzahl auch nur schwer aufspüren. Neutrinos entstünden ständig von neuem, etwa in der Sonne, erläutert Seitz-Moskaliuk.

Besonders interessieren sich die Geisterteilchenjäger für jene Neutrinos, die durch den Urknall vor mehr als 13 Milliarden Jahren erzeugt worden sind. Etwa 300 davon gebe es in jedem Kubikzentimeter des Universums, sagt Seitz-Moskaliuk. Klingt wenig, aber All-weit käme da wohl schon eine enorme Masse zusammen, schätzt der 27-Jährige. Zu wissen, wie groß die Masse eines einzelnen Neutrinos ist, könnte daher helfen, die großen Fragen der Astronomie zu beantworten. Wie entstand alles aus nichts? Was geschah nach dem Urknall? Wie entwickelte sich der Kosmos in seine heutige Form?

Bis die etwa 200 an Katrin beteiligten Wissenschaftler aus Europa und den USA diese letzten Fragen vielleicht beantworten können, dürften noch einige Jahre ins Land gehen. Derzeit sind die Experten noch mit dem Versuchsaufbau beschäftigt. Das 60-Millionen-Euro-Projekt liegt sechs Jahre hinter dem Zeitplan und noch immer fehlen wichtige Elemente der künftig 70 Meter langen Apparatur.

Der Aufwand ist gewaltig: Der titanische Vakuumtank wurde von einer Spezialfirma im bayerischen Deggendorf bei Regensburg hergestellt. Da er unter keiner Autobahnbrücke hindurchpasste, wurde er per Lastkahn über die Donau, durch das Schwarze Meer, das Mittelmeer, den Atlantik, den Ärmelkanal, die Nordsee und schließlich über den Rhein nach Leopoldshafen bei Karlsruhe verschifft. Gegenüber den 350 Kilometern Landweg «ein Umweg von schlappen 8600 Kilometern», sagt Seitz-Moskaliuk. Nur die letzten 6,8 Kilometer zum Forschungszentrum legte der silbrige Supertank mit dem Tieflader-Schwertransport zurück. Das Foto, auf dem er über ein Mehrfamilienhaus in Leopoldshafen lugt, ging um die Welt.

Bei einem so gewaltigen Experiment seien Verzögerungen nicht ungewöhnlich, sagt Ernst-Wilhelm Otten. Um die Jahrtausendwende hat der inzwischen emeritierte Professor für Experimentalphysik an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz ein Vorgängerexperiment von Katrin durchgeführt - in wesentlich kleinerem Maßstab: Der Versuchsaufbau der Mainzer war sechs Meter lang. «Das kann man aber nicht einfach abpausen und zehnmal größer bauen», gibt Otten zu bedenken. Denn wenn man ein solch komplexes Experiment skaliere, stiegen nicht nur die Ausmaße, sondern auch die Anforderungen an die Präzision und vieles mehr. So hätten allein die Vorplanungen, an denen Otten beteiligt war, volle vier Jahre in Anspruch genommen. «Man musste jedes Detail wissenschaftlich neu durchdringen!»

Die Idee hinter Katrin klingt eigentlich ganz einfach: Die Forscher lassen radioaktives Tritium zerfallen. Dieser superschwere Wasserstoff besteht aus einem Proton und zwei Neutronen. Zerfällt dieser Kern, werden dabei ein Elektron und ein Neutrino frei. Übrig bleibt weiterhin ein Tochterkern. Die Zerfallsenergie, die dabei entsteht, kennen die Forscher. Sie verteilt sich auf die Bewegungsenergie des Tochterkerns, die Massenenergie des Elektrons, die Bewegungsenergie des Elektrons und schließlich die Massen- und Bewegungsenergie des Neutrinos. Betrachtet man nun den Fall, dass die gesamte Bewegungsenergie beim Elektron ist und setzt diese Werte in Einsteins berühmte Formel, E = mc², ein, «dann bleibt als einzige Unbekannte die Masse des Neutrinos übrig», sagt Seitz-Moskaliuk.

Die gesamte Bewegungsenergie können indes nur die allerschnellsten Elektronen auf sich vereinen. Und das sind eben jene, welche die 18 600 Volt Hochspannung überwinden, welche die Forscher im Spektrometer-Stahltank erzeugen. «Der Clou ist also, dass wir das Neutrino nicht wiegen, sondern die Masse nur indirekt feststellen.»

Ganz einfach also? Vielleicht doch nicht ganz. «Das Ereignis ist extrem selten», sagt Seitz-Moskaliuk. Volle fünf Jahre lang werden er und seine Kollegen deshalb Elektronen durch ihren riesigen Supertank sausen lassen. Die Mainzer Wissenschaftler um Ernst-Wilhelm Otten hatten festgestellt, dass die Neutrinomasse in der bei Teilchenphysikern üblichen Einheit kleiner als zwei Elektronenvolt pro dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit ist. Zum Vergleich: Das Elektron wiegt mehr als 250 000 Mal so viel wie dieser obere Grenzwert. Das Katrin-Spektrometer misst zehnmal genauer. Dazu mussten die Forscher aber einen 100 Mal größeren Vakuumtank konstruieren. Technisch sei dies das Ende der Fahnenstange, glaubt Seitz-Moskaliuk. «Wenn wir die Neutrinomasse damit nicht messen können, müssen neue Ideen her.»

Ob Katrin die hohen Erwartungen wird erfüllen oder schließlich gar übertreffen können, müsse das Experiment zeigen, sagt Otten. Aber auch wenn die angepeilte Grenze vielleicht doch nicht ganz erreicht werden könne, würden die in jedem Falle genaueren Messdaten die Wissenschaft weiterbringen. Konkurrierende Experimente, die Neutrinomasse festzustellen, sieht er derzeit nicht, wohl aber alternative Ansätze im Entwicklungsstadium. «Und ob die einmal genauer sein werden, steht auch in den Sternen.»

Katrin-Experiment