Kampf gegen das West-Establishment - Sozialforscher sagt offen, warum die AfD im Osten wirklich so stark ist
Die AfD hat im Osten Deutschlands einen größeren Rückhalt als im Westen. Doch woran liegt das? An einer größeren Demokratiefeindlichkeit? Der Sozialforscher Andreas Herteux verneint dies und zeigt die Ursachen für den Erfolg der Partei auf.
Unzweifelhaft; die Alternative für Deutschland hat im Osten bemerkenswerte Erfolge und wird von manchen Beobachtern in einigen Bundesländern bereits als eine Art Volkspartei wahrgenommen. Doch warum ist die AfD dort so erfolgreich? Welche Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländer sind auffällig und sind die Ostdeutschen, man verzeihe die etwas provokative These, vielleicht gar nicht die schlechteren Demokraten, sondern gehen lediglich von anderen Grundannahmen aus?
Das alles sind legitime Fragen, die einer tiefergehenden Annäherung bedürfen und wo sollte diese einfacher vonstattengehen als in Thüringen, dem Bundesland, in dem die AfD im Moment in Umfragen am stärksten erscheint? Es daher an der Zeit für einen genaueren Blick und der beginnt bereits bei der Demographie.
Gravierende demographische Unterschiede zum Westen
Thüringen hatte im Jahr 1990 ca. 2,6 Millionen Einwohner. 2000 waren es ungefähr 2,3 Millionen und 2024 reden wir von nur noch 2,1 Millionen. Die Bevölkerung ist demnach geschrumpft. Primär, es soll kein Geheimnis bleiben, durch Abwanderung. Eine große Anzahl der Bürger hat das Land verlassen und es waren nicht selten jüngere Menschen, die ihr Glück in der Ferne gesucht haben und nicht zurückgekehrt sind.
Aus diesem Grunde kann es auch nicht verwundern, wenn Thüringen heute mit knapp 47,6 Jahren die zweitälteste Bevölkerung in Deutschland stellt. Gut und gerne 35 Prozent sind bereits über 60 und knapp 63 Prozent über 40 Jahre alt. Mit einer Fertilitätsrate, das ist die Anzahl der Kinder pro Frau, von 1,33 liegt man unter dem bundesdeutschen Schnitt. Angemerkt muss wohl auch noch, dass es einen Männerüberschuss gibt und das im Besonderen in ländlichen Regionen spürbar ist.
Es gab und gibt daher eine große demographische Lücke, die niemals gefüllt wurde; im Übrigen auch nicht durch Zuwanderung aus dem Ausland.
Migration
Aber auch das ist ein relevantes Stichwort, dem man nicht ausweichen darf und für das gewählte Thema erscheint es daher ebenfalls wichtig zu erwähnen, dass in Deutschland ca. 22,3 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund haben. Das entspricht ca. 27 Prozent der Bevölkerung (Stand 2022). In Thüringen sind es aktuell ca. 9 Prozent. Auf den ersten Blick wirkt dies – im Verhältnis - wenig, allerdings sei der Vollständigkeit halber erwähnt, dass es im Jahr 2014 lediglich ca. 2,5 Prozent waren.
Die Konfrontation mit anderen Kulturen fand daher lange Zeit nur in einem überschaubaren, oft gebündelten Rahmen statt. Ehemalige DDR-Vertragsarbeiter, Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, dem Ostblock oder der früheren Sowjetunion – alles noch kontrollier- und überschaubar; oft urban gebündelt. Das änderte sich zweifellos durch die beschriebene Steigerung ab 2014, die hauptsächlich mit dem Feld „Flucht und Asyl“ im Zusammenhang stand und steht.
Manch Beobachter neigt dazu, aufgrund der Relation der Zahlen zu Gesamtdeutschland, das weite Feld der Migration zu unterschätzen, aber manchmal haben auch scheinbar kleine Zahlen eine große Wirkung.
Wenig Einflüsse durch urbane Kräfte
Metropolen und auch das ist eine wichtige Erkenntnis, gibt es in Thüringen nicht. Selbst Erfurt hat als größte Stadt nur etwas über 210.000 Einwohner. Dieser Punkt mag auf den ersten Blick nebensächlich erscheinen, aber gerade Großstädte und auch deren Universitätsstruktur sind nicht selten Träger neuer, oft postmaterieller Ideen oder um einmal etwas konkreter zu werden; der klassische Grünen-Wähler lebt urban und ist nicht selten in genau jenem postmateriellen Milieu (ca. 12 Prozent der Bevölkerung) beheimatet. Diese Lebenswirklichkeit gibt es aber in Thüringen, in Relation zu Gesamtdeutschland, nur in einem viel kleineren Rahmen und daher ist auch dessen Einfluss geringer. Ein schwieriges Feld, um die Saat für politische Richtungen aufgehen zu lassen, die im Westen sehr erfolgreich gedeihen, im Osten allerdings nie vergleichbare Erfolge erzielen konnten.
Strukturen weichen vom Westen deutlich ab
Wir haben daher in der Summe eine relativ alte Bevölkerung, die wenig Impulse, welcher Art auch immer, von nachkommenden Generationen oder aus den Großstädten erhalten hat.
Doch das ist nur Demographie. Wesentlich interessanter sind die Einstellungen der Menschen und wir werden schnell erkennen, und keine Frage, dies wird bei manchem Leser auf innerlichen Widerstand treffen, dass diese erst einmal wenig mit den bekannten, aber obsoleten Kampfbegriffen „links“ und „rechts“ zu tun haben.
Persönliche Werte und Einstellungen
Diesbezüglich gehen wir ein wenig zurück. Es gibt ganz interessante Milieustudien aus dem Ende der 2000er bzw. dem Beginn der 2010er Jahre, also noch bevor die AfD überhaupt gegründet wurde. Damals gehörten ca. 45 Prozent der Ostdeutschen traditionell Milieus an. Dazu gehörten das DDR-verwurzelte Milieu, welche vereinfacht ausgedrückt, die frühere Elite stellten, die Kleinbürger sowie Teile der traditionellen und traditionslosen Arbeitnehmer.
Im Westen waren es zu dieser Zeit nur noch ca. 33 Prozent, allerdings ist die reine Zahl an dieser Stelle nicht relevant, denn der wahre Unterschied ist, dass die BRD-Traditionen in dieser Stelle nur wenig mit den DDR-Traditionen zu tun hat.
Während es keine Anpassungsprobleme dabei gab, dass beispielsweise die Hedonisten-Milieus, also diejenigen, denen es primär um Spaß und Konsum geht, in Ost und West ineinander aufgehen, fand ein solcher Annäherungsprozess, aus verschiedenen Gründen, in den traditionellen Bereichen nur sehr eingeschränkt statt.
Die These, dass das vorherige Leben in der DDR aus westlicher Perspektive, die nun einmal die Erinnerungskultur dominierte und noch immer dominiert, als weniger erinnerungswürdig dargestellt wurde als die Jahrzehnte in der alten BRD, ist an dieser Stelle zumindest diskutabel. Ob sie, zur Verfestigung der Einstellungen beigetragen hat sowie als Abwertung der Biographien sowie Lebensleistungen im Osten gewirkt haben kann, wird sich kaum wissenschaftlich beweisen lassen. Sie bleibt zumindest begründete Spekulation.
Kaum Impulse durch junge Generationen
Lassen wir das offen und kommen wir zurück zu den Abwanderungen. Noch 20 Jahre nach der Wende gab es einen großen Anteil an Bürgern, die innerlich noch sehr an ihren Traditionen hing, während zugleich die jüngeren Menschen, also genau jene, die solche Ansichten naturgemäß verändern sowie modifizieren, Ostdeutschland in großer Anzahl verließen. Parallel dazu ändert sich vieles bei den Einstellungen im Westen massiv. Offenbar verließ mit den jungen Generationen auch ein großes gesellschaftliches Veränderungspotential die neuen Bundesländer und damit fehlten am Ende vielfach die Brückenbauer in eine neue, gesamtdeutsche Ära. Nicht für alle, aber doch für eine beachtliche Anzahl an Menschen.
Eine wirklich tiefere Annäherung an die neue Zeit erfolgte nur teilweise. Zweifellos war dies auch ein grundlegender Planungsfehler, der davon ausging, dass die großen Erzählungen und Erfolge des Westens automatisch in die Geschichte des Ostens übergehen würden. Das geschah aber nur teilweise.
Oder einfacher ausgedrückt; für viele Menschen im Westen war es lange Zeit selbstverständlich, den etablierten Parteien oder auch Medien zu vertrauen, denn man hatte ja teilweise jahrzehntelange Erfahrung mit ihnen. Im Osten gab es diesen Vertrauensvorschuss nie in diesem Umfang. Er musste jeweils durch gegenwärtige Politik erkämpft werden, was vor allem der CDU und SPD immer wieder gelang und teilweise noch heute gelingt. Oft erzeugten aber einzelne Personen mehr Vertrauen als Organisationen.
Vernachlässigung rächt sich
Dabei haben es die westlichen Parteien aber nie geschafft, die traditionellen Milieus des Osten, die sich viel langsamer veränderten als im Westen, komplett zu durchdringen. Gerne erzählt man an dieser Stelle von den Wendeverlieren, den Systemprofiteuren und den ewig Gestrigen, doch wäre das fair? Wählerbeschimpfung ist keine Lösung, sondern nur die letzte Verzweiflung vor dem kommenden Ungemach.
Die Folge war, dass Teile der traditionellen DDR-Milieus schon wenige Jahre nach der Wende wieder massenhaft Stimmen an die PDS bzw. später die Linke abgaben. Zwar konnten auch rechte Parteien wie die DVU oder die NPD im Osten Menschen einfangen, allerdings nie in einem solchen Umfang wie die SED-Nachfolgepartei, die lange Zeit noch über ein umfangreiches Netzwerk vor Ort verfügte.
Teile des Ostens haben daher schon sehr lange alternativ gewählt. Das akzeptierte man und bemühte sich nicht einmal mehr, auch diese Menschen abzuholen. Zweifellos der nächste Fehler.
Der Beitrag der Politik
Doch wir stehen nicht mehr am Beginn der 2010er, auch wenn spätestens zu diesem Zeitpunkt ein globaler Zeitenwandel unübersehbar war, der die Machtverhältnisse verschob. Der Westen wurde schwächer und die Politik, im Besonderen in Deutschland reagierte Mitte der 2000er mit bloßer Verwaltung statt mit innovativer Zukunftsausrichtung darauf. Die Finanzkrise kam, Euro- und Schuldenkatastrophen folgten, während neue, oft asiatische Wettbewerber auf dem Markt vorbeizogen und Politik wurde plötzlich alternativlos, obwohl sie es nie war. Postmaterielle Überzeugungen drangen aus den Universitäten mehr und mehr in die Wirklichkeit ein. Letzteren Prozess nannte man fälschlicherweise „Linksruck“.
Es gab den Brexit, Trump, einen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit, internationale Konflikte, Identitätsfragen. Probleme wurden nicht mehr gelöst, nur verschoben. In der Migrationsfrage, bei der Pandemiebekämpfung, bei der Energiewende. Die Bedürfnisse vieler Milieus in Gesamtdeutschland wurden ignoriert und marginalisiert. Es gab große Visionen wie die geplante sozio-ökologische Transformation der Ampel.
In der Summe wäre es schlicht unredlich, nicht zu erwähnen, dass die Politik ihren Beitrag dazu geleistet hat, das Vertrauen vieler Bürger zu verspielen.
Widerstand und Marginalisierung
Die traditionellen DDR-Milieus, man verzeihe, wenn sie an dieser Stelle noch immer so genannt werden, hatten jahrelang keine neuen Impulse aufgenommen und wurden nun – in einem unglaublichen Tempo – mit immer neuen Realitäten konfrontiert. Das überforderte. Die Lebenswirklichkeiten versuchten Gehör zu finden. Ihre Bedürfnisse wurden marginalisiert.
Das führte erst zu Milieukonflikten und schließlich zum offenen Milieukampf, der noch heute vorherrscht. Diese Energie und Dynamik, jene geballte Unzufriedenheit die sich bei solchen Vorgängen entladen, ist eine Kraft, die sich politisch nutzen lässt und die durch neue digitale Medien, zweifellos eine weiterer Faktor dafür, warum ausgerechnet die Alternative für Deutschland erfolgreich werden konnte, während andere „Rechtsparteien“ früher auch an der Widerstandsfähigkeit der etablierten Medien mehr oder weniger zerschellten, selbstredend auch potenziert wird.
Kampf gegen das West-Establishment wichtiger als politische Überzeugung
Die Tür für jede Partei, die sich gegen dieses neue Establishment richtete, war damit offen und als sich auch noch die Linkspartei mehr und mehr postmateriellen Werten zuwandte, musste die AfD nur noch hindurchtreten.
Dabei geht es gar nicht um spezifisch um rechtsradikale Einstellungen, auch, wenn es einen gewissen, einen zu großen, Prozentsatz mit einem solchen Gedankengut gibt, sondern um eine gefühlte Ausnahmesituation, die langsam, aber sicher eine neue Realität schafft. Der letzte Satz mag bei manchem Beobachter, der in den neuen Bundesländern eine besondere Anfälligkeit für extreme Inhalte erkennt, inneren Widerstand erzeugen. Das ist legitim und doch darf nicht vergessen werden, dass auch das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) und die PDS/Linkspartei im Osten auf Basis der gleichen Mechanismen erfolgreich waren oder sein werden.
Selbstverständlich ist es nicht auszuschließen das Narrative, vielleicht auch welche der AfD, langfristig in das Selbstbild sowie in die Traditionen der Menschen mit einfließen und eine Symbiose bilden, allerdings überwiegt im Moment der Gedanke dem Mainstream-Establishment kritisch zu begegnen. Noch ist die AfD mehr Mittel sowie Ausdrucksform denn Leitbild oder gar Fixstern. Noch ist es mehr Protest als politische Überzeugung. Noch.
Der unverstandene Osten?
Ist der Osten daher verloren? Nein, sicher nicht. Sind die traditionellen Milieus verloren? Sie waren doch nie richtig gewonnen. Was aber trösten mag; so wie die Lebenswirklichkeiten von der PDS zur AfD gesprungen sind, so wie sie nun das BSW in die Höhe heben, genauso schnell kann dies auch wieder an eine andere politische Kraft verloren gehen. Kann. Muss allerdings nicht.
Was bleibt? In der Summe die Erkenntnis, dass das politische Wirken eines Teils der Menschen im Osten sich primär aus demografischen, kulturellen, historischen und politischen Faktoren speist, nicht aber aus einer einseitigen politischen Ausrichtung, wie oft fälschlicherweise unterstellt wird.
Und ja, es ist die unbequemere Erkenntnis, denn monokausale Ursachen vereinfachen alles erst einmal ungemein. Sie führen in der Regel aber irgendwann in eine realpolitische Sackgasse, aus der nur schwer wieder zu entkommen ist.
Surftipp: Gastbeitrag von Politik-Experte Henning Vöpel - Woran die Ampel gescheitert ist