Werbung

Kanzler Scholz flog nach Brasilien, um unabhängiger von China zu werden – aber er hat die Rechnung ohne Lula und seine guten Beziehungen zu Peking gemacht

Bundeskanzler Olaf Scholz mit Barsiliens neuem Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva am Montag in Brasilia. - Copyright: picture alliance/dpa/Kay Nietfeld
Bundeskanzler Olaf Scholz mit Barsiliens neuem Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva am Montag in Brasilia. - Copyright: picture alliance/dpa/Kay Nietfeld

Das war wohl nichts... Am Ende der Lateinamerika-Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz lag der vielleicht wichtigste Stopp: Brasilien. Ziel war, die Zusammenarbeit mit Lateinamerika im Wettbewerb mit Russland und China zu stärken. Doch diese Rechnung hat der SPD-Politiker offensichtlich ohne den neuen, brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva – kurz: Lula – gemacht. Und ohne die Chinesen. Denn im Gegensatz zu seinem Vorgänger Jair Bolsonaro, der aufgrund seiner aggressiven Äußerungen zu China als sinophob galt, will Lula das Verhältnis zu Peking wieder neu aufbauen und an die guten Verbindungen während seiner ersten Amtszeit von 2003 bis 2010 anknüpfen.

Genau das spiegelte sich nun in seiner Rhetorik wider. Beim Scholz-Besuch in Brasilia forderte Lula Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine – und folgt damit der Linie Pekings, sich nicht in den Konflikt einmischen zu wollen. Verhandlungen werden zwar auch von Deutschland, den USA und anderen Partnern keineswegs abgelehnt; betont wird allerdings immer wieder, dass allein Kiew als Opfer des russischen Angriffskriegs den Zeitpunkt dafür festlegen kann. Lula hingegen gibt, fast zynisch, den Ukrainerinnen und Ukrainern, deren Wohngebiete täglich von Moskau bombardiert werden, eine Mitschuld an Putins Krieg. Kaum überraschend kam dann auch eine bittere Absage an Scholz: Dieser hatte in Brasilia um eine Munitionslieferung für den in der Ukraine eingesetzten Flugabwehrpanzer Gepard gebeten, was Lula kategorisch ablehnt.

"Brasilien ist ein Land des Friedens. Und deswegen will Brasilien keinerlei Beteiligung an diesem Krieg – auch nicht indirekt", sagte Lula auf einer Pressekonferenz mit Scholz am Montag (Ortszeit) zur Begründung seiner Absage. Das ist bitter für Deutschland, das auf der Suche nach Munition für die 30 Gepard-Flugabwehrpanzer ist, die es in die Ukraine geliefert hat, und die sieben weiteren, die noch kommen sollen. Eine neue Fabrik des Rüstungsunternehmens Rheinmetall für die Herstellung dieser Munition entsteht zwar derzeit in Niedersachsen; die Fertigung soll aber erst im Juni beginnen. Bis zu 300.000 Schuss hätte Brasilien liefern können, wie Business Insider im vergangenen Jahr berichtete. Doch nun steht fest, dass aus dieser Übergangsversorgung für Kiew nichts wird.

Stattdessen sei es notwendig, so Lula, "eine Gruppe von Ländern zu bilden, die stark genug ist und respektiert wird, und sich mit den beiden an einem Verhandlungstisch zusammensetzt." Als mögliche Vermittler nannte der Präsident Brasilien und China – damit knüpft er an alte Allianzen aus Zeiten seiner früheren Regierungstätigkeit an.

Experten beobachten Lulas Ansatz gegenüber Peking nicht unkritisch: Seit seiner ersten Amtszeit hat sich die Lage in der Volksrepublik massiv verändert. Partei- und Staatsführer Xi Jinping hat den Sicherheits- und Kontrollapparat sowie seine Armee ausgebaut. Die Menschenrechtslage verschlechtert sich zunehmend; Kritiker der Kommunistischen Partei werden mundtot gemacht und Minderheiten in Tibet und Xinjiang systematisch unterdrückt.

Lulas Beziehungen zu Peking gehen lange zurück

Um Lulas Handeln zu verstehen, lohnt sich ein Blick in seine erste Amtszeit als Präsident: Damals habe er gehofft, dass China ein diplomatischer Partner sein könnte, um seine Vision von einer gerechteren Stimme für den globalen Süden umzusetzen, analysiert die Forscherin Genevieve Slosberg vom Think Tank "Carnegie Endowment for International Peace". Schließlich war es Lula gewesen, der 2006 bei der Gründung eben der Gruppe maßgeblich beteiligt war, die heute als BRICS bekannt ist. Mitglieder sind die aufstrebenden Volkswirtschaften Brasiliens, Russlands, Indiens, Chinas und Südafrikas, die sich als Alternative zu den von den westlichen Industrieländern dominierten Bündnissen zusammenschlossen. Slosberg: "Am Ende von Lulas erster Präsidentschaft war der Handel zwischen Brasilien und China von praktisch null auf fast 60 Milliarden Dollar gestiegen. Im Jahr 2009 wurde China zum wichtigsten Handelspartner Brasiliens, und Brasilien erhielt von der China Development Bank einen rekordverdächtigen Auftrag in Höhe von 7 Milliarden Dollar für die Erschließung von Offshore-Ölvorkommen."

Seit Lulas Ausscheiden als Präsident vertieften sich die Wirtschaftsbeziehungen zu China: 47 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen Chinas in Lateinamerika entfielen laut dem Carnegie-Bericht auf Brasilien – das sind seit 2010 mehr als 66 Milliarden Dollar. Zudem profitierte Brasilien stark von der chinesischen Entwicklungshilfe, die im Rahmen der Initiative Neue Seidenstraße stark ausgeweitet wurde. Von 2010 bis 2021 habe Brasilien 22,47 Milliarden Dollar von der China Development Bank und der China Export-Import Bank erhalten, heißt es in dem Report. Chinas hohe Nachfrage an Rohstoffen konnte Brasilien als wichtiger Exporteur von Erdöl, Eisen und Sojabohnen bedienen.

Doch so glatt läuft es schon lange nicht mehr: Seit Lulas erster Amtszeit haben sich Chinas Prioritäten grundlegend verändert, dass die früheren Handelsbeziehungen wie "Flitterwochen" erscheinen, argumentiert Slosberg: "Nach einem Rekordhoch von 7,5 Milliarden Dollar im Jahr 2015 trockneten die chinesischen Kredite an Brasilien langsam aus, bis sie in den 2020er Jahren praktisch nicht mehr vorhanden waren." Als Schwellenland, das auf den Verkauf von Rohstoffen angewiesen sei, sehe sich Brasilien mit einem China konfrontiert, das voll auf den Technologie-Sektor setze.

Ein Beispiel hierfür gibt es aus dem Jahr 2018, als der chinesische Ridesharing-Riese Didi Brasiliens lokales Ridesharing-Unternehmen "99" kaufte. Dies sei Teil einer wachsenden Präsenz chinesischer Tech-Investitionen in Brasilien, wodurch einige chinesische Apps Marktanteile gewinnen, während der Anteil der Downloads von US-amerikanischen Apps in den letzten fünf Jahren stagniere. "Wenn China weiterhin das Wachstum des brasilianischen Technologiesektors steuert, wird Brasiliens Fähigkeit, den von Lula angestrebten Status eines gleichberechtigten Partners zu erreichen, noch weiter eingeschränkt", sagt Susberg.

Noch besorgniserregender sei jedoch die Abhängigkeit, die im Falle einer Eskalation des "Chips-Kriegs" zwischen den USA und China dem brasilianischen Partner droht. Die Folge wäre, dass die Vereinigten Staaten jede Zugehörigkeit zu chinesischer Technologie als feindlich werten könnten und Brasilien auf dem Prüfstand stünde.

Lula sitzt also zwischen den Stühlen und will eines in jedem Fall verhindern: China als wichtigen Partner zu vergrätzen. Da ist sein Ansatz, im Ukraine-Konflikt die Pekinger Linie des sich nicht Einmischens zu übernehmen, keine Überraschung.

Immerhin: Lula und Scholz wollen Freihandelsabkommen vorantreiben

Immerhin ziehen Scholz und Lula bei einem anderen Thema am selben Strang, so scheint es: Beiden wollen einen schnellen Abschluss des Mercosur-Abkommens, um damit den Freihandel zwischen Europäischer Union, Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay zu fördern. Mit dem Abkommen entstünde ein Markt mit mehr als 700 Millionen Menschen, der fast 20 Prozent der Weltwirtschaft und 31 Prozent der weltweiten Warenexporte abdeckt. Seit 1999 wird über den Vertrag verhandelt, 2019 kam es zum Durchbruch. Unterschrieben ist bislang trotzdem nichts.

Vor allem hakt es am Schutz des Amazonaswaldes, der schon großteils für Viehzucht und Landwirtschaft abgeholzt wurde. Die EU will die Einhaltung strenger Umweltstandards mit dem Handelsabkommen verknüpfen – womit sie in Lateinamerika zum Teil auf Widerwillen stößt. Und auch zwischen den Mercosur-Staaten knirscht es: Die linke Regierung Argentiniens will die heimische Wirtschaft vor der internationalen Konkurrenz schützen, die rechten Regierungen in Uruguay und Brasilien wollten bis zum dortigen Machtwechsel zum 1. Januar Handelshemmnisse abbauen. Der argentinische Präsident Alberto Fernández hatte nach einem Treffen mit Scholz in Buenos Aires ebenfalls den Wunsch ausgedrückt, bald zu einer Übereinkunft kommen. Wie lange das noch dauern wird, bleibt trotzdem unklar.

Mit Material der dpa