Karl-Theodor zu Guttenberg - Über den Schatten springen - mehr als nur eine absonderliche Turnübung
Vor einigen Tagen begegnete ich bei einem Spaziergang einem Mann. Unablässig redete er auf seinen kleinen Sohn ein. Im prallen Sonnenlicht. Er schien ihn von etwas überzeugen zu wollen.
„Du musst nur über Deinen Schatten springen!“
„Was?“
„Über den Schatten springen. Das sagt man so. Trau Dich endlich.“
Der Junge nahm es wörtlich und tat, wie ihm geheißen. Zumindest versuchte er es. Eine Weile sah sich der Vater die erfolglosen Hüpfer an. Sichtlich ungerührt.
„Das funktioniert nicht“, klagte der Bub frustriert.
„Natürlich nicht. Das habe ich auch nicht gemeint.“
Sein Sohn blickte ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Hilflosigkeit an. Fast, als ob er um die Freigabe zur Adoption ersuchen würde.
Dann nahm er Anlauf und sprang mit einem Jauchzer über den Schatten seines Vaters.
Der Mann hinterließ nicht den Eindruck, als hätte er die tiefere Bedeutung dieses Augenblickes erkannt.
Ich durfte viele Zeitgenossen kennenlernen, denen es nie gelingen wollte, über die Schatten ihrer unmittelbaren Umgebung hinwegzukommen. Auch jene ihrer Vergangenheit und eingebildeten Zukunft. Getrieben von Erwartungen und Konventionen.
Jeder Mensch wirft Schatten. Auf sich und andere. Und es gibt wohl kaum ein Leben, auf das sich nicht irgendwann größere Schatten legen.
Die eigene Projektion ist aber bei weitem die komplexeste und (wenigstens physisch) unüberwindbar.
Selbst wenn man glaubt, den Sprung gemeistert zu haben, greift die Klaue des Schattens im letzten Moment unerbittlich zu.
Gleichzeitig bietet die deutsche Redewendung aber mehr als nur eine absonderliche Turnübung.
Sie geht auf den alten Glauben zurück, der Schatten einer Person sei mit ihr so untrennbar verwachsen wie der Charakter.
Irgendwie ist es bezeichnend, wie unser Kulturkreis den (auch positiven) Umstand, über die eigenen Grenzen hinauszugehen, mit einem Bild der Unmöglichkeit belegt. Ein Ausdruck unserer Risikoscheu? Vielleicht. Manche Vorstellungskraft endet in der Warnung, nicht „über die eigenen Füße zu stolpern.“ Die Schadenfreude, wenn es dann doch geschieht, ist oftmals bereits eingepreist.
Im englischen Sprachgebrauch gibt es dagegen keine poetischen Verrenkungen um die eigene Silhuette.
Dort spricht man realitätsnäher von „to step out of one’s comfort zone” oder „to get out of one’s own way”.
Als Joe Biden unlängst seinen Rückzug von der Präsidentschaftskandidatur ankündigte, übten sich einige deutsche Kommentatoren in typisch lebensbequemer Galligkeit: er sei nun endlich über seinen Schatten gesprungen.
Warum sollte er? Nur um jenen zu genügen, die glauben, alle Fliehkräfte der Führung einer Weltmacht abschätzen zu können? Kaum. Eher hat er sich seinem Schatten gebeugt. Über ihn gesprungen ist eine andere. Kamala Harris.
Den oben geschilderten Spaziergang hat es übrigens nie gegeben. Nur in meinen Gedanken. Vor einiger Zeit. Als ich mir selbst begegnete. In meiner Rolle als Vater und Sohn.