Karrierecoach zu Grün, Klima, Gender - Diktat der Unternehmensmoral nervt immer mehr Mitarbeiter - sie sind pragmatischer

Wer heute die Karriereseite eines beliebigen größeren Unternehmens öffnet, findet – neben den Stellenangeboten – umfangreiche moralische Selbstüberhöhung und Belehrungen.<span class="copyright">Getty Images / skynesher</span>
Wer heute die Karriereseite eines beliebigen größeren Unternehmens öffnet, findet – neben den Stellenangeboten – umfangreiche moralische Selbstüberhöhung und Belehrungen.Getty Images / skynesher

Die Selbstdarstellung vieler Unternehmen liegt heute irgendwo zwischen Benetton-Werbung, Parteitag der Grünen und Evangelischem Kirchentag: Moralisch selbstgefällig, belehrend und übergriffig missionarisch. Karrierecoach Attila Albert analaysiert, warum das so viele Arbeitnehmer stört.

Wer heute die Karriereseite eines beliebigen größeren Unternehmens öffnet, findet – neben den Stellenangeboten – umfangreiche moralische Selbstüberhöhung und Belehrungen. „Uns ist es wichtig, für das Gute einzustehen und dafür aufzustehen. Machst du mit?”, fragt etwa die Deutsche Telekom suggestiv ihre Bewerber. „Lass uns gemeinsam mit entschlossener Stimme Stellung beziehen und aktiv eine Veränderung bewirken! Für Diversität, Inklusion und Gleichberechtigung. Und eine lebenswerte Zukunft in einer gesunden Umwelt.”

Die Allianz muss Bewerbern mitteilen: „Es ist Pride Season und das ist definitiv ein Grund zu feiern. Lasst uns zusammen die Welt bunter, fröhlicher und glitzernder machen!  (...) Wir machen uns stark für eine Zukunft, in der alle gleichermaßen gefördert werden.” Die Liste der weiteren Ziele ist lang, darunter: „Unsere Arbeit richtet sich an dem Ziel einer maximalen Erderwärmung von 1,5 Grad bis 2050 gemäß dem Pariser Klimaabkommen aus.” Die Sana Kliniken miss mitteilen: „Was zählt, ist Zusammenhalt. Was hilft, ist Vielfalt. #Diversity.”

Fast jedes Unternehmen verkündet so seinen „Purpose” (Zweck), und fast immer heißt der: Grün, Klima und Gender, illustriert mit sorgsam ausgesuchten Fotomodellen aller Hautfarben („Vielfalt ist unsere Stärke. Wir setzen uns für Toleranz, Inklusion und Wertschätzung ein”). Die betriebliche Selbstdarstellung ähnelt dabei eher einer Benetton-Werbung aus den Neunzigern, dem Parteitag der Grünen oder dem Evangelischen Kirchentag. Viele Arbeitnehmer nervt diese fast wortgleiche Moral-PR inzwischen, und das hat Gründe.

Belegschaften sind politisch vielfältig

Die fortlaufenden Wahlumfragen zeigen, wie unterschiedlich die Deutschen gerade in weltanschaulichen und politischen Fragen denken. Der aktuelle Wahltrend (Stand vom 17. August 2024) bestätigt das: 31,0 Prozent wären danach aktuell für die CDU/CSU, 17,1 Prozent für die AfD, 14,9 Prozent für die SPD. 12,1 Prozent  würden die Grünen bevorzugen, 8,0 Prozent das Bündnis Sahra Wagenknecht. 4,9 Prozent wären für die FDP, 3,0 Prozent für die Linke, 1,6 Prozent für die Freien Wähler.

Diese Vielfalt der Ansichten findet sich auch in den Belegschaften der Unternehmen, zudem an verschiedenen Standorten noch einmal regional unterschiedlich ausgeprägt. Eine Geschäftsleitung, die „im Namen des Unternehmens” politische Erklärungen abgibt, bevormundet und gängelt ihre Mitarbeiter. Eine gesetzliche Ausnahme sind nur klar verortete „Tendenzbetriebe” wie Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, NGOs und Vereine.

Jeder weiß, dass die Realität anders aussieht

Die betriebliche Realität sieht vielerorts sowieso eher so wie das Beurteilungssystem aus, das Microsoft 2023 bei sich eingeführt hat: Es teilt die Mitarbeiter in vier Kategorien danach ein, ob sie die Erwartungen enttäuscht oder erfüllt haben – ohne aber, dass diese die Kriterien und ihre Einstufung erfahren. Diese sind nur den Managern zugänglich, die über Beförderungen, Gehalt und Prämien entscheiden. Nach außen verkündet Microsoft aber als Grundwerte: Respekt und Integrität – „Wir sind ehrlich, ethisch und vertrauenswürdig”.

Bei aller vorgeblichen „Buntheit” finden sich in den CEO-Positionen zudem auch weiterhin meist grauhaarige Wirtschaftswissenschaftler oder Betriebswirte in den 50ern. Bei den wichtigen Entscheidungen gilt: „Purpose” ist der Zuckerguss; der Kuchen, der verteilt wird, hat weiterhin die Grundzutaten Umsatz und Gewinn. Das ist keine Charakterschwäche oder Doppelmoral, sondern rationale Kalkulation: Unternehmen sind per Definition Opportunisten, die sich nach Markt- und Meinungstrends richten, um erfolgreich zu sein.

Das Unternehmen hat einen anderen Auftrag

Der wahre Zweck eines Unternehmens lässt sich, sachlich und nüchtern, seinem Eintrag im Handelsregister entnehmen: Darin steht, warum es existiert, nämlich seiner Produkte und Dienstleistungen wegen. Mit ihnen muss es normalerweise auch einen Gewinn erzielen, um Investoren zu halten, Modernisierungen zu ermöglichen und Rücklagen für den Notfall zu bilden. Selbst gemeinnützige Unternehmen müssen kostendeckend wirtschaften.

Gibt ein Unternehmen stattdessen vor, angeblich „höhere Ziele” zu verfolgen, handelt es sich meist um Marken-Positionierung, Image-PR oder Risikovorsorge für den Fall, für unterstellte oder tatsächliche Versäumnisse öffentlich angeprangert zu werden. Oder aber, das Unternehmen scheitert an seiner eigentlichen Aufgabe und versucht, durch Moral-PR davon abzulenken und zumindest anderweitig Sympathiepunkte zu sammeln.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Deutsche Bahn. „Laut und deutlich für Toleranz, Demokratie, Freiheit und Europa”, will sie gemäß Selbstbild eintreten, „gegen Populismus und Spaltung und pro Klimaschutz”. „Soziale Verantwortung”, „grüne Transformation”, „gleiche Chancen für Frauen”, „Vielfalt und Chancengleichheit” nennt sie als weitere Zeile – und scheitert dagegen an pünktlichen, sauberen Zügen und einem ausgeglichenen Geschäftsergebnis.

Die Ziele der Mitarbeiter sind pragmatischer

Auf ihren Karriereseiten thematisieren die Unternehmen heute überwiegend hochfliegende Ziele wie: „Mit Kreativität und Leidenschaft die Zukunft mitgestalten”, „die Welt neu denken”, „Teil einer Mission sein” und „Nachhaltigkeit, Vielfalt und Inklusion leben”. Dabei hat ein Großteil der Belegschaft viel handfestere Ziele: Ein gut bezahlter, sicherer Job, vernünftige Ausstattung und Atmosphäre, Vereinbarkeit mit der Familie (z. B. Betriebskindergarten).

Der amerikanische Psychologe Abraham Maslow hat schon 1943 mit seinem bekannten Modell der „Bedürfnispyramide” festgestellt, dass zuerst die Miete und das Essen bezahlt sein müssen, ehe man in höhere Sphären aufsteigen, sich „selbst verwirklichen” und „die Welt besser machen” kann. In dieser Reihenfolge setzen auch die meisten Mitarbeiter ihre Prioritäten: Erst Erwerbsarbeit, dann Selbstverwirklichung, dann Selbstüberwindung.

Das hat sich auch mit der vielbeschworenen „Generation Z” nicht verändert. Nur ziehen junge Männer heute im Schnitt erst mit 25 Jahren daheim aus, Frauen mit 23 Jahren. Wer seine existenzielle Grundversorgung – Unterkunft, Verpflegung, Kleidung, Versicherungen – auch als Erwachsener noch an seine Eltern delegieren kann, dem fällt es naturgemäß leichter, sich den gehobenen Themen der Selbstverwirklichung und -überwindung zu widmen.

Für seine Arbeit muss sich keiner schämen

In der Moral-PR vieler Unternehmen und Führungskräfte klingt auch Kapitalismus-Scham mit. Das führt zu erstaunlichen gedanklichen Verrenkungen und Selbsttäuschungen, wenn beispielsweise hochbezahlte Führungskräfte innerhalb ihrer Konzernkarriere angeblich „gegen das System kämpften” oder „das Patriarchat” hassen, aber auf LinkedIn den CEO „feiert”, um sich beliebt zu machen. Eine Überhöhung auf moralischer Ebene soll ausgleichen, dass es in einem Wirtschaftsbetrieb natürlich (auch) ums Geld geht.

Dabei tut ein Unternehmen allein mit guten Produkten und Dienstleistungen bereits ausreichend viel dafür, dass „die Welt jeden Tag ein wenig besser wird”. Es löst damit konkrete Probleme seiner Kunden, schafft Arbeitsplätze und Einkommen für seine Mitarbeiter, Erlöse für seine Eigentümer, Steuereinnahmen und ein praktisches Funktionieren für die Gesellschaft. Damit tut es mehr für die Gesellschaft als eine „globale Konzerninitiative", die vor allem auf PowerPoint und in PR-Artikeln stattfindet.

Viele Unternehmen haben die Sinnfrage in den vergangenen Jahren überstrapaziert und derart überhöht, dass sie mit den wahren Motiven ihrer Angestellten nicht mehr viel zu tun hat. In der Belegschaft kommen auch die wenigsten allein aus Idealismus, für „eine neue Herausforderung", um „Respekt zu leben” oder „Einzigartigkeit zu fördern”, sondern weil sie das Einkommen brauchen, hoffentlich ihre Aufgaben interessant und ihre Kollegen nett finden. Das ist kein Plädoyer gegen sinnerfüllte Arbeit, sondern dafür, einen persönlichen Sinn für sich darin zu finden, anstatt sich etwas aufdrängen oder einreden zu lassen.