Kinder-und Jugendpsychiater warnt - Politik versagt: Die Psyche unserer Kinder leidet und niemand hilft
Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen steht zunehmend im Fokus, Experte für Kinder- und Jugendpsychiatrie Michael Schulte-Markwort beleuchtet die Gründe für den Anstieg stationärer Behandlungen.
Was sind die Hauptgründe für den Anstieg der stationären Behandlungen von Kindern und Jugendlichen aufgrund von psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen zwischen 2012 und 2022?
Wir leben in einer Zeit erhöhter Aufmerksamkeit der erwachsenen Welt Kindern und Jugendlichen gegenüber, wir leben in einer Zeit erhöhter Belastungen durch externe Faktoren wie die Corona-Pandemie, Kriege und Klimawandel und wir leben vielleicht auch in einer Zeit erhöhter Vulnerabilität und Aufmerksamkeit. Dies alles führt dazu, dass Kinder und Jugendliche schneller und häufiger vorgestellt werden.
Die erhöhte Aufmerksamkeit Kindern und Jugendlichen gegenüber bezieht sich auch auf psychische Symptome. Das ist eine gute Entwicklung. Zu oft mussten wir Kinder- und JugendpsychiaterInnen in der Vergangenheit chronifizierten Symptomen und Erkrankungen hinterherlaufen, weil Eltern spät, manchmal zu spät gekommen sind. Je früher einer fundierte Diagnostik und effektive Behandlung - sei es psychotherapeutisch und/oder psychopharmakologisch - eingeleitet werden kann, desto besser.
Oft wird Eltern heute Überfürsorglichkeit unterstellt. Wenn wir Ärzte da mitgehen würden, würde es bedeuten, dass wir fälschlicherweise Kinder und Jugendliche in Behandlung nehmen. Das wäre unethisch und ein Behandlungsfehler und ist allein schon aufgrund der Tatsache der immensen Versorgungsengpässe, unter denen alle - Kinder, Familien und Ärzte - leiden, undenkbar. Insofern ist dieser Grund prinzipiell ein Anlass zu Freude, weil damit mehr Kinder und Jugendliche vorgestellt werden.
Darüber hinaus ist die Sensibilität in der Bevölkerung für psychische Erkrankungen allgemein gestiegen und die Stigmatisierungsangst durch eine kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung gesunken - auch das sind Anzeichen für eine Entängstigung und Versachlichung, was ebenfalls gut ist.
Kinder sind heute existentiellen Belastungen ausgesetzt, die es zumindest in Deutschland seit fast 80 Jahren nicht mehr gegeben hat. Auch, wenn gesunde Kindheit mit einer gewissen Resilienz ausgestattet ist, so bleibt auch die elterliche und erwachsene Angst den Kindern nicht verborgen. Das galt für Corona und gilt einmal mehr für den Krieg Russlands in der Ukraine. Während manche Erwachsene ihre Angst dadurch zu beherrschen suchen, indem sie sich sehr konservativen bis rechtsradikalen politischen Strömungen anschließen, sind Kinder mit ihrer Angst oft alleine. Das hat Konsequenzen, unter anderem in vermehrten behandlungsbedürftigen Symptomen.
Eltern sind aufmerksamer und sehen heute mehr, was manchmal auch damit einhergeht, dass Symptome nicht nur früher, sondern mehr gesehen werden. Auch das führt zu einem Anstieg der Behandlungen.
Welche Faktoren tragen dazu bei, dass Mädchen häufiger als Jungen wegen psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen im Krankenhaus behandelt werden?
Die Tatsache, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie schon immer „mädchenlastig“ ist, hat schon immer zu vielen verschiedenen Hypothesen und Theorien geführt. Zum einen muss man wohl davon ausgehen, dass Mädchen konstitutionell oder auch genetisch vulnerabler, das heißt anfälliger sind für psychischer Erkrankungen. Eine genetische Bedingung ist unübersehbar bei den Essstörungen, die unverändert fast nur bei Mädchen vorkommen. Ähnliches gilt für selbstverletzendes Verhalten und alle Erkrankungen aus dem depressiv-ängstlichen Formenkreis.
Geschlechtsstereotypisch neigen Mädchen eher zu internalisierenden Erkrankungen wie Angst und Depression, die Jungen eher zu externalisierenden Störungen wie Dissozialität oder auch ADHS (wobei das für ADS nicht unbedingt gilt). Das bedeutet nicht, dass es nicht auch depressive oder auch ängstliche Jungen gibt, sie sind allerdings zahlenmäßig in der Kinder- und Jugendpsychiatrie deutlich weniger vertreten.
Es scheint also tatsächlich eine Frage des Geschlechts zu sein - neben geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, die parallel wirksam sind. Die aktuelle Diskussion einer reiner soziologisch determinierten Ausformung geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen wird zumindest durch die eindeutigen Verteilungen in Form von psychischen Erkrankungen widerlegt.
Ein weiterer Faktor ist sicherlich auch die Tatsache dass Mädchen - ebenfalls entlang einer Geschlechtsstereotypie - introspektionsfähiger und offener sind für psychotherapeutische Hilfe. An dieser Stelle sind die Mädchen deutlich mutiger als die Jungen, die es - männlich identifiziert - gewohnt sind, Gefühle und Konflikte mit sich selbst auszumachen, unter Umständen ganz nach dem Vorbild ihrer Väter.
Warum ist Depression die häufigste Diagnose bei Kindern und Jugendlichen, die wegen psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen stationär behandelt werden?
Die Frage nach dem Warum ist nicht ganz leicht zu beantworten. Die Fähigkeit zum Traurig-Sein ist menschheitsimmanent, das heißt es handelt sich um eine Gefühlsdimension, die allen Menschen zur Verfügung steht und die zur normalen Gefühlsregulation auch notwendig ist. Das alleine ist aber sicherlich nicht der Grund, warum Depressionen zu den häufigsten Diagnosen im Kindes- und Jugendalter gehören.
Wir unterscheiden dabei die reaktiven Depressionen - also die Reaktion auf belastende oder traumatisierende Erlebnisse - von den Depressionen, die im englischen als Major Depression bezeichnet werden - Depressionen, die oft unableitbar auf der Grundlage eines Serotoninmangels im Gehirn entstehen. Depressionen sind immer im Rahmen einer Übergangsreihe zu sehen, von der leichten Verstimmung über chronisch depressive Zustände bis hin zu schweren Verläufen mit Suizidalität, Selbstmordgefährdung. Insofern gehört die Veranlagung dazu, depressiv zu reagieren oder auch aus sich heraus zu werden, zu den menschlichen Grundkonstituenten.
Depressionen haben eine hohe genetische Belastung, das heißt sie werden zum Einen vererbt, aber es ist auch nicht zu unterschätzen, was es für ein Kind bedeutet, mit einem oder zwei depressiven Elternteilen aufzuwachsen und deren depressive Abkehr von der Welt jeden Tag zu erleben.
Bei den Mädchen gibt es noch eine Form der Depression, die mit dem weiblichen Zyklus verknüpft ist, das sogenannte prämenstruelle Syndrom. Später kann bei den Müttern die (mit 25 Prozent weit verbreitete) Wochenbettdepression auftreten, die nicht immer vollkommen verschwindet, sondern ein Hinweis auf eine Disposition für Depressionen sein kann. Vereinfacht könnte man sagen, dass Depressionen einfach ähnlich wie Angst zu den psychischen Grundausstattungen der Menschen gehören.
Wie wirkt sich Alkoholmissbrauch auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus und warum führt er zu so vielen Krankenhausaufenthalten?
Es gibt kaum ein Organsystem im menschlichen Körper, auf das sich Alkohol - und nicht erst der Missbrauch - nicht schädlich auswirkt. Das gilt für den sich im Wachstum befindlichen Körper noch mehr als für den ausgereiften. Nicht umsonst hat die EGE, die deutsche Gesellschaft für Ernährung, kürzlich ihre Warnungen gegenüber jeglichem Alkoholkonsum nicht nur im Jugendalter deutlich ausgeweitet. Das macht deutlich, dass wir in allen westlichen Gesellschaften eine bigotte Haltung leben: Alkohol ist in allen Gruppierungen der Gesellschaft anerkannt, aber bei Jugendlichen versuchen wir manchmal, andere Maßstäben durchzusetzen, um ihnen gleichzeitig etwas anderes vorzuleben.
Alkohol im Jugendalter kommt als ein Austesten von Grenzen schon immer vor. Jugendliches - männliches- „Komasaufen“ war und ist der Versuch, sich größer, älter zu machen, Grenzerfahrungen mit dem eigenen Körper zu erleben, pubertäre Angst und Unsicherheit im wahrsten Sinn des Wortes zu ertränken und die Laune zu heben und manchmal auch sozusagen zu einer Eigenbehandlung mit einer stimmungsaufhellenden und, betäubenden Substanz zu greifen, um Symptome der Angst oder Anspannung nicht mehr spüren zu müssen.
Alkoholabhängigkeit im Jugendalter ist mit etwa 5 Prozent nicht so häufig, sogenannter pathologischer Gebrauch, also das Gewohnheitstrinken kommt viel häufiger vor. Die Mädchen haben in den letzten Jahren dabei deutlich aufgeholt. Alkoholkonsum ist Moden unterworfen, wie den „Shots“, süßen Fertigdrinks mit Alkohol, aber auch aktuell deutlich mehr Abstinenz, die eingebettet ist in eine vegetarische oder vegane Ernährung, die mit einem besonderen Bewusstsein für ein gesundes Leben einhergeht.
Neben den unmittelbar alkoholassoziierten Symptomen von Missbrauch, wie Entzug, Konzentrationsstörungen, eine zunehmende Unfähigkeit, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen und finanziellen Problemen führt Alkoholmissbrauch zu depressiven Erkrankungen (die dann symptomatisch immer wieder mit Alkohol bekämpft werden und so die Spirale anheizen), aber auch Angststörungen.
Eltern sollten den Alkohol weder einfach verteufeln noch bagatellisieren. Auch gilt: das Vorleben gezügelten, gelegentlichen Konsums ist die Grundlage. Und wenn Eltern den Eindruck haben, der Konsum ist explodiert, vielleicht auch heimlich, sollten sie sich nicht scheuen, die nächste Drogenambulanz oder kinder- und jugendpsychiatrische Praxis oder Klinik aufzusuchen. Bei Alkoholmissbrauch gilt besonders: Die frühe Intervention ist wichtig!
Können Sie erklären, wie schwere Belastungen und Anpassungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen zu psychischen Erkrankungen führen können?
Schwere Belastungen oder auch Traumatisierungen führen zu psychischen Störungen, weil sie die Belastungsfähigkeit der betroffenen kindlichen oder jugendlichen Seele überfordern. Es gehört zu den Kennzeichen von Traumata, dass sie die individuellen Verabeitungsmechanismen überfodern. Wenn so ein psychischer Zustand eintritt, ist die Seele überfordert und ihr stehen keine gesunden Abwehrmechanismen zur Verfügung. Die unmittelbaren Folgen dieses Zusammenbruchs sind zum Beispiel akute floride Angstzustände, Erstarrung oder Lähmung, die Unfähigkeit zu reagieren oder zu handeln. In der weiteren Folge können sich dann vorübergehende oder dauerhafte Symptome, wie Angststörungen oder Depressionen entwickeln.
Immer wieder auftretende Flashbacks (Erinnerungen und Aktivierung des Traumas durch Geräusche oder Erlebnisse, die an das Ereignis erinnern) können die Symptomatik unterhalten. Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen traumatisierenden Naturereignissen (Unwetter, Lawinen etc.) und sogenannten menschengemachten Traumata wie Schläge, Verwahrlosung oder sexueller Missbrauch.
Eine Sonderform ist der emotionale Missbrauch, der oft chronisch geschieht, aber durch die Dauer der Belastung ebenfalls zu Anpassungsstörungen führen kann. Der Begriff Anpassungsstörung ist missverständlich, weil er klingt wie eine angemessene psychische Leistung, was im Prinzip auch stimmt, allerdings in diesem Fall an eine missbräuchliche oder für jeden Menschen nicht aushaltbare und akzeptable Situation.
Traumata sind viel weiter verbreitet, als allgemein angenommen - dies gilt insbesondere für den sexuellen Missbrauch und seine Dunkelziffer. Hier trauen die betroffenen (Mädchen) sich oft nicht, an jemand zu wenden, weil die Scham zu groß ist. Man kann unmittelbar ableiten, wie sehr zumindest diese Form der Traumatisierung psychische Symptome auslösen und unterhalten kann.
Schwere Belastungen führen immer irgendwann dazu, dass die seelische Verarbeitungskapazität überfordert ist, der Zusammenbruch dieser Abwehrmechanismen führt am häufigsten zu Angst, Anspannung und Depression, vodergründig paradoxerweise auch zu selbstverletzendem Verhalten. Das ist deshalb paradox, weil man denken könnte, das Trauma ist ja immer im Außen zu verorten und kann doch nicht dazu führen, dass ein Mensch sich selber bestraft, aber das trägt den großen Schuld- und Schamgefüheln der Betroffenen nicht Rechnung. Viele sexuell missbrauchte Mädchen haben das Gefühl „selber Schuld“ zu haben, was die Wendung gegen sich erklärt.
Welche Maßnahmen könnten ergriffen werden, um die Zahl der stationären Behandlungen von Kindern und Jugendlichen aufgrund von psychischen Erkrankungen zu reduzieren?
Die Forderung nach einem Ausbau stationärer (und ambulanter) Ressourcen für Kinder- und Jugendpsychiatrie verhallt in den Bundesländern regelmäßig mit dem Benchmark, der untereinander gilt und aktuell auch mit den zu erwartenden (?) schrumpfenden Bevölkerungszahlen. Die Ressourcen im ambulanten Bereich sind gedeckelt, weil die Kassenärztliche Versorgung Budgets verteilt, die nicht ausreichen, schon gar nicht im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Selbst in Ballungszentren in Deutschland müssen Kinder und ihre Familien ein (!) Jahr auf einen ambulanten Termin warten.
Nach wie vor ist davon auszugehen, dass der kindlichen psychischen Gesundheit in Deutschland keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Man gerät in eine hilflos-moralisierende Haltung (zumindest, wenn man lange genug dabei ist) in dem Wissen, dass diese Forderung und diesen Anklage so schnell verhallen wird, wie Leser diesen Artikel aufrufen. Dennoch bleibt nichts anderes, als die Forderung beständig zu wiederholen. Nur, wenn genügend Menschen verstanden haben, dass Kinder keine eigene Lobby gründen können, und wir die Zukunft unseres Landes, der Welt, dadurch riskieren, dass wir gesamtgesellschaftlich verwahrlosend handeln, könnte sich etwas ändern.