Kindergrundsicherung, Krankenhausreform, Bürokratieabbau - „Mehr Fortschritt wagen“: Diese wichtigen Projekte hat die Ampel noch nicht begonnen
SPD, Grüne und FDP haben noch rund ein Jahr bis zur nächsten Bundestagswahl Zeit, alle Vorhaben aus ihrem Koalitionsvertrag umzusetzen. Dabei sind einige wichtige Projekte nicht einmal begonnen. Eine Analyse.
Unter dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ hatten die drei Ampel-Parteien im Herbst 2021 ihren Koalitionsvertrag auf 144 Seiten unterzeichnet. Der entspricht der To-Do-Liste für die Legislaturperiode und tatsächlich haben die drei Parteien trotz andauernder Streitereien viel daraus umgesetzt. Das Gebäudeenergiegesetz wurde beschlossen, der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht, Hartz IV durch das Bürgergeld abgelöst. Doch nicht alles ist bisher umgesetzt. Das sind die wichtigsten Projekte, die die Ampel eigentlich im letzten Jahr ihrer Regierung noch angehen müsste.
Kindergrundsicherung
Was ist das? Mit der Kindergrundsicherung sollen verschiedene Leistungen für Kinder wie Kindergeld, Kinderzuschuss, den Kinderregelbedarf des Bürgergeldes und Teile des Bildungs- und Teilhabepaketes in einer Zahlung zusammenfassen. Das soll es Eltern erleichtern, diese Leistungen zu beantragen. Aus demselben Grund plant die Bundesregierung auch eine digitale Antragsstellung. Die Kindergrundsicherung soll aus zwei Komponenten bestehen: erstens einem Garantiebetrag in Höhe des heutigen Kindergeldes, also 250 Euro pro Kind, und einem Zusatzbeitrag, der sich nach dem Einkommen der Eltern staffelt. Zusammen sollen so mehr als 500 Euro pro Kind theoretisch möglich sein.
Warum ist es bisher noch nicht umgesetzt? Die Kindergrundsicherung ist in der Koalition umstritten. Besonders die FDP sträubt sich gegen die Verwaltungskosten, weil das von den Grünen geführte Familienministerium dafür eine neue Behörde einrichten möchte. Kabinett und Bundestag haben das Gesetz aber bereits beschlossen, derzeit wird noch mit den Bundesländern über Änderungen verhandelt.
Wird es noch kommen? Ursprünglich sollte die Kindergrundsicherung zum 1. Januar 2025 eingeführt werden. Das wird wohl nicht mehr klappen. Wahrscheinlicher ist der 1. Juli. Um komplett zu scheitern, ist das Projekt aber wohl schon zu weit vorangeschritten.
Bürokratieentlastungsgesetz IV
Was ist das? Die ausufernde Bürokratie gilt in Deutschland als eines der größten Hemmnisse für die Wirtschaft. Entsprechend hatte sich die Koalition ein Entlastungsgesetz vorgenommen. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hatte hunderte Vorschläge und Wünsche von Unternehmen und Verbänden dafür in einem Gesetz zusammengefasst. Es soll die Wirtschaft neben viel Aufwand auch von Kosten in Höhe von 944 Millionen Euro pro Jahr entlasten.
Warum ist es bisher noch nicht umgesetzt? Im Mai wurde das Gesetz erstmals in den Bundestag eingebracht und dort von fast allen Abgeordneten begrüßt. Auch der Bundesrat findet es generell gut, die Länder haben jedoch zahlreiche Änderungsvorschläge eingebracht. Meist geht es um weitere Entlastungen, die ihnen in dem Gesetz fehlen. Die Bundesregierung kündigte an, diese zu prüfen. Seitdem ist es still um das Gesetz geworden.
Wird es noch kommen? Eigentlich sollte das Gesetz leicht zu beschließen sein, weil es die Staatshaushalte nichts kostet und viele Änderungen von allen Seiten gewünscht sind. Da sich der Beschluss jetzt aber schon jahrelang zieht, ist ungewiss, ob es vor Ende der Legislaturperiode noch beschlossen wird.
Krankenhausreform
Was ist das? Die deutschen Krankenhäuser darben seit Jahrzehnten finanziell. Die Zahl der Kliniken ist ebenso wie die der Betten deutlich gesunken, das bisherige Finanzierungssystem der Fallpauschalen macht gute Beratung und viele Behandlungen unattraktiv. Ohne eine große Reform droht nach Ansicht von Gesundheitsexperten in naher Zukunft ein Kliniksterben.
Warum ist es bisher noch nicht umgesetzt? Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) arbeitet quasi seit Amtsantritt an der Reform. Die ist nicht so einfach, weil viele Akteure – Krankenhausbetreiber, Kommunen, Bundesländer und Krankenkassen zum Beispiel – mit ihren Wünschen unter einen Hut gebracht werden müssen.
Wird es noch kommen? Im Mai hat das Kabinett die Reform beschlossen, sie wurde bisher aber noch nicht in den Bundestag eingebracht. Lauterbach will erst die weiteren Wünsche von Bundesländern noch einbauen, um ein langwieriges Vermittlungsverfahren zu verhindern. Wahrscheinlich ist, dass die Reform noch vor der nächsten Wahl verabschiedet wird. Für ein Scheitern steckt bereits zu viel Arbeit in dem Projekt.
400.000 neue Wohnungen
Was ist das? Um den Wohnungsmarkt zu entlasten und Mieten zu senken, plante die Bundesregierung pro Jahr den Neubau von 400.000 Wohnungen, davon 100.000 öffentlich geförderten Sozialwohnungen.
Warum ist es bisher noch nicht umgesetzt? Die Energie- und Rohstoffkrise, die Baustoffe stark verteuerte, sowie die gestiegenen Leitzinsen der EZB kamen der Ampel ebenso in die Quere wie die eigene Trägheit beim Abbau bürokratischer Hürden und dem Aufbau dauerhaft helfender Förderprogramme.
Wird es noch kommen? Nein. Das Ifo-Institut schätzt, dass dieses Jahr maximal 225.000 Wohnungen neu gebaut werden. Schätzungen anderer Ökonomen oder Bauverbände sind teils noch pessimistischer. Im kommenden Jahr wird sich das kaum verbessern.
Entgelttransparenzgesetz
Was ist das? Die erste Version des Gesetzes existiert seit 2017 und soll helfen, die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen bei gleicher Arbeit und Qualifikation zu schließen. Es erlaubt Arbeitnehmern in Betrieben mit mindestens 200 Angestellten, den Median-Lohn für einen Job zu erfahren, der mit dem ihren vergleichbar ist. Die Ampel hatte geplant, dieses Gesetz zu verschärfen und Arbeitnehmern etwa juristische Möglichkeiten zu geben, höhere Gehälter zu erstreiten, wenn sie unterbezahlt wären.
Warum ist es bisher noch nicht umgesetzt? Im vergangenen Sommer bekam die Bundesregierung die Ergebnisse eines Evaluierungsberichts zum bisherigen Gesetz. Darin zeigt sich, dass bisher erst 4 Prozent aller Arbeitnehmer das Gesetz ausnutzten und nur 30 Prozent der Unternehmen wie verpflichtet, ihre Entgeltstrukturen überprüft haben. Das Bundesfrauenministerium kündigte an, die Ergebnisse und Empfehlungen der Experten auszuwerten.
Wird es noch kommen? Jein. Ein rein deutsche Entgelttransparenzgesetz ist unwahrscheinlich, aber die EU hat mittlerweile im vergangenen Jahr eine Richtlinie beschlossen, die in eine ähnliche Richtung geht und von Deutschland bis 2026 umgesetzt werden muss. Selbst, wenn die Ampel das vor der nächsten Wahl nicht mehr macht, müsste es dann die nächste Bundesregierung tun.
Flächendeckender Glasfaser-Ausbau
Was ist das? Glasfasern sind die schnellste Möglichkeit für stationäre Breitbandanschlüsse, also schnellstmögliches Internet. Dafür müssen entsprechende neue Kabel und Anschlüsse in Häusern verlegt werden. Die Ampel erklärte in ihrem Koalitionsvertrag die „flächendeckende Versorgung“ als ihr Ziel an.
Warum ist es bisher noch nicht umgesetzt? Selbst, wenn wir großzügigerweise davon ausgehen, dass eine 100-prozentige Versorgung utopisch ist und in vier Jahren auch keine 80 oder 90 Prozent der Haushalte angeschlossen werden können, ist der aktuelle Stand deprimierend. Gerade einmal 10,1 Prozent der Breitbandanschlüsse in Deutschland laufen über Glasfaser. Innerhalb der OECD sind nur Belgien und Griechenland noch schlechter. Von Spitzenreitern wie Südkorea (88,9 Prozent) und Japan (85,8 Prozent) trennen uns Welten, selbst Schwellenländer wie Chile (68,9 Prozent) und Costa Rica (44,4 Prozent) liegen weit vor uns.
Wird es noch kommen? Definitiv wird die Glasfaser-Abdeckung bis zur kommenden Bundestagswahl nicht einmal annähernd den Status „flächendeckend“ erreichen.
Ausbau des Schienennetzes
Was ist das? Die Ampel-Koalition plante zu Beginn, deutlich mehr Investitionen in das deutsche Schienennetz als in Straßen zu stecken. Dazu sollte ein „Masterplan Schienenverkehr“ entwickelt werden. Ziel ist etwa, mit Zugverbindungen Autofahrten und Kurzflüge unattraktiv zu machen.
Warum ist es bisher noch nicht umgesetzt? Entgegen den bisherigen Plänen bekommt die Schiene nicht deutlich mehr Geld als die Straße. 2022 und 2023 lagen die Investitionen sogar niedriger, erst dieses Jahr hat die Schiene mit 12,1 Milliarden Euro die Straße mit 12,8 Milliarden Euro fast eingeholt. Im EU-Vergleich ist das unterdurchschnittlich.
Wird es noch kommen? Für die kommenden Jahre sieht die Finanzplanung endlich die Umsetzung des Koalitionsziels vor. 2025 soll die Schiene mit 18,1 Milliarden Euro fast doppelt so viel Geld erhalten wie die Straßen mit 9,1 Milliarden Euro. Für 2026 und 2027 liegt das Verhältnis bei 17,5 zu 9,5 Milliarden Euro. Eine neue Bundesregierung könnte das aber natürlich wieder kippen.
Digitalpakt 2.0
Was ist das? Um Schulen besser mit digitalem Equipment und Lehrer mit entsprechenden Lehrplänen und Wissen auszustatten, investierte der Bund im ersten Digitalpakt von 2019 bis 2024 rund 6,5 Milliarden Euro. Der Pakt wurde aber von Schulen kaum ausgenutzt, weil diese dafür ein Digitalkonzept einreichen mussten. Die Förderung wurde auch vom Bundesrechnungshof als zu kompliziert bewertet. Bis 2021 wurde nicht einmal eine Milliarde Euro der Fördergelder abgerufen. Die Ampel kündigte deswegen einen Digitalpakt 2.0 an, der wesentlich simpler funktionieren und bis 2030 laufen sollte.
Warum ist es bisher noch nicht umgesetzt? Bund und Länder streiten seit Jahren ums Geld. Nach Ansicht der Bundesländer will die Bundesregierung mit nur 2,5 Milliarden Euro viel zu wenig Geld zur Verfügung stellen. Genauso viel sollen die Bundesländer einbringen, was denen aber zu viel ist. Sie wollen lieber wieder eine Finanzierung, bei der der Bund 90 Prozent der Kosten übernimmt.
Wird es noch kommen? Eigentlich soll der Digitalpakt 2.0 schon 2025 starten. Das erscheint unwahrscheinlich. Da der Bund sowieso sparen muss, machen einige Milliarden Euro mehr für den Digitalpakt einen gewichtigen Unterschied. Die Bundesländer hingegen wollen ihren Anteil nicht aufstocken. Die Fronten scheinen da festgefahren.
Weitere Projekte
Neben den genannten großen Projekten sind auch viele kleinere Sachen noch nicht umgesetzt. So wollte die Bundesregierung etwa die Kosten für Meisterkurse im Handwerk senken und allgemein für die Weiterbildung ein „Lebenschancen-Bafög“ einführen. Die Eigenanteile in der Pflege sollten nach oben begrenzt werden und die Kappungsgrenzen für Mieten von 20 auf 11 Prozent in drei Jahren gesenkt werden. All dies ist noch nicht geschehen. Noch nicht erarbeitet ist auch das versprochene „Luftverkehrskonzept 2030+“, welches Flughäfen und den Flugverkehr in Deutschland für eine Co2-neutrale Zukunft fit machen sollte. Ärgerlich für Eltern: Die zwei Wochen bezahlten Urlaub nach der Geburt für den Partner oder die Partnerin der Mutter lassen auch noch auf sich warten. Für keines dieser Projekte gibt es aktuell konkrete Umsetzungspläne.