Kinderpsychiater Michael Schulte-Markwort - Anna bekam mit 12 Jahren Depressionen – so erkennen Eltern Krisen bei ihren Kindern
Depressionen machen auch vor Kindern nicht halt. Die 14-jährige Anna kämpft mit Gefühlen von Kraftlosigkeit und Traurigkeit. Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort erklärt am Fallbeispiel Anna, wie man Warnzeichen erkennt und Hilfe findet.
Annas erster Besuch beim Psychiater
Anna ist 14. Sie sitzt vor mir, vornübergebeugt, die Haare fallen ihr ins Gesicht und der gesamt erste Eindruck ist von Kraftlosigkeit und Traurigkeit geprägt. „Bist du freiwillig bei mir, Anna?“ ist wie so oft meine erste Frage. Sie nickt fast unmerklich und auch ein wenig positiv überrascht, dass sie die Hauptperson unseres Gespräches ist und nicht die Eltern.
Gleichzeitig macht es ihr Druck: Wird sie vor mir bestehen, alle Fragen beantworten können? Wir lassen uns Zeit. Auf die Frage, was sie denn zu mir führe, zuckt sie vorsichtig und ratlos mit den Schultern. „Du kannst es gar nicht wirklich sagen, oder?“ frage ich. Anna nickt.
„Also ich habe den Eindruck, als wenn du traurig wirkst. Stimmt das?“ Anna nickt wieder. Sie berichtet dann sehr leise und mühsam, dass sie sich seit über einem Jahr immer mehr entleert fühle, keinen Appetit mehr habe, lust- und vor allem antriebslos sei und am liebsten den ganzen Tag im Bett zubringen würde.
Gleichzeitig hasse sie sich dafür, habe das Gefühl zu versagen und gehöre schon längst nicht mehr zu der Gruppe ihrer Freundinnen und Freunde. Irgendwie fühle sie sich wie in einem Karussell, aus dem sie nicht mehr aussteigen könne. Jeder Tag beginne mit einer schwarzen Wolke, mit tiefer Herabgestimmtheit und großer Kraftlosigkeit. Den Weg in die Schule schaffe sie nicht mehr jeden Tag. Abends sei ihre Stimmung etwas besser, aber dann wache sie nach einem verzögerten Einschlafen jede Nacht auf, sei dann um 5 Uhr hellwach, um dann wieder wegzudämmern und völlig gerädert vom Wecker mühevoll wachzuwerden. So langsam habe Anna das Gefühl, dass ihr Leben keinen Sinn mehr mache.
Die verzweifelten Eltern
Die Eltern von Anna sind ebenfalls verzweifelt. Alle Bemühungen Anna aufzumuntern seien ebenso gescheitert wie Versuche, sie mit Druck in die Schule zu hieven. Die Hilflosigkeit habe sich auf die ganze Familie übertragen, auch Annas Geschwister würden Anna nicht mehr erreichen.
Diagnose: Mittelschwere depressive Episode
Ohne Zweifel erfüllt Anna die diagnostischen Kriterien für eine Depression, eine mittelschwere depressive Episode. Insbesondere ihre tagesrhythmischen Schwankungen mit einem Morgentief und einem relativen Abendtief in Kombination mit den spezifischen Schlafstörungen sprechen für einen Serotoninmangel im Gehirn, wie er im Prinzip bei allen Menschen auftreten und eine Depression auslösen kann.
Eine familiäre Häufung dieser Diagnose findet sich auch bei Anna: Sowohl ihre Großmutter väterlicherseits als auch eine schon lange bestehende Depression des Vaters verstärken das Risiko, selbst auch so eine Form der Depression zu entwickeln. Mit einer Kombination aus Psychotherapie und Psychopharmakotherapie lässt sich die Depression von Anna in der Regel gut behandeln.
Schleichender Beginn der Symptome
In weiteren Gesprächen mit Anna und ihren Eltern wird deutlich, dass die Symptomatik schon knapp zwei Jahre vor der Vorstellung bei mir schleichend begonnen hat. Anna wurde langsam immer stiller und fing an, sich zurückzuziehen. Die Eltern haben dies gedeutet als beginnende pubertäre Veränderungen, wie sie bei Kindern an der Schwelle zu dieser Lebensphase oft vorkommen. Annas Bilder, mit denen sie sich immer so gerne ablenkte, wurden dunkler, ihre Mimik immer ausdrucksloser und ihre Antworten immer karger. Manchmal kam es zum Streit, weil die Eltern den Eindruck hatten, Anna würde sich verweigern.
Frühwarnzeichen ernst nehmen
Der nicht untypische Verlauf der Entwicklung von Annas Depression kann uns lehren, auf Frühwarnzeichen zu achten und vor allem darauf zu reagieren. Im Fall von möglichen Depressionen sind alle Symptome, die man in einem Zusammenhang mit Depressionen finden kann, auch im Frühstadium beachtenswert. Das gilt natürlich nicht für vorübergehende pubertäre depressive Verstimmungen, die immer im Kontext zeitlicher Dimensionen gesehen werden müssen.
Es gelten also Zeitkriterien - als Faustregel: alles, was länger als sechs Wochen anhält - und vor allem: die elterliche Expertise. Hören Sie als Eltern oder auch Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher auf Ihre innere Stimme, Ihre Wahrnehmung für ein Kind, seine persönlichen Merkmale und vor allem alle seelischen Veränderungen und Auffälligkeiten. Zögern Sie dann nicht, das betroffene Kind bei einem Facharzt oder einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie beziehungsweise einer Psychologischen Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten vorzustellen. Eine „überflüssige“ Vorstellung oder Diagnostik schadet keinem Kind. Vorsorge beginnt auch mit einer möglichst frühen Erkennung psychischer Erkrankungen.