Klartext - die Kolumne von Ahmad Mansour - Bei Syrien ist unsere Politik blind und naiv – jetzt haben wir eine Riesenchance
Westliche Politiker gratulieren den Syrern zum Sieg über das Assad-Regime. Doch am Ende waren sie viel zu lange blind und verstehen immer noch nicht, was im Nahen Osten wirklich vor sich geht. Wir dürfen die große Chance, die sich in Syrien jetzt auftut, nicht verspielen.
Der Sturz des Assad-Regimes markiert das Ende von Jahrzehnten der Unterdrückung, des Massenmords und der Diktatur. Syriens Bevölkerung feiert, der Jubel in den Straßen erschallt weltweit.
Doch es gibt gute Gründe, den neuen Akteuren und Wortführern mit Skepsis und Sorge entgegenzublicken. Unter ihnen sind einige Islamisten, andere haben sich vom IS zwar losgesagt. Doch wie weit diese Lossagung geht, das ist alles andere als klar.
Erschütternd sind die Berichte über die jetzt aufgesperrten Folterzentren und die Brutalität von Assads Geheimdiensten. Über Jahrzehnte wurden Menschen hier brutal ihrer Würde und ihrer Rechte beraubt. Entsetzlich auch die Szenen vom Einsatz chemischer Waffen gegen die Bevölkerung. Kein Zweifel: Dass dieses Regime gestürzt wurde, ist gut.
Gigantische Umwälzungen im Nahen Osten
Wir erleben derzeit gigantische Umwälzungen im Nahen Osten. Zu den positiven Folgen des Sturzes von Assad gehört es, dass der Einfluss des iranischen Regimes in der Region spürbar abnehmen wird. Überhaupt war der Sturz nur möglich, weil die Terrororganisation Hisbollah – ein Arm des iranischen Regimes – zuvor geschwächt worden war. Waffenlieferungen an die Terrororganisation Hisbollah werden nun viel schwieriger sein als bisher.
Am 7. Oktober 2023 fantasierte der Hamas-Anführer Yahya Sinwar in bizarrem Größenwahn von einer völlig veränderten Landkarte des Nahen Ostens. Dieses Ziel wurde erreicht. Aber ganz anders als von Sinwar geplant.
Im Augenblick verändert sich die Landkarte der Region rapide und direkt vor unseren Augen. Unter Schmerzen, Spannungen und Verletzungen erringt Israel – trotz des egoistischen und korrupten Premiers Netanyahu – einen beachtlichen Sieg über die „iranische Widerstandsachse“. Laut der Doktrin des ehemaligen Generals Qassem Soleimani und jener von Hassan Nasrallah, Kopf der Hisbollah, sollte Israel,umringt von
Raketen und Dauerbeschuss, schrittweise zermürbt und zerlegt werden.
Am Ende wäre der Staat ausgelöscht. Nun sind diese beiden Männer nicht mehr am Leben, und zerlegt wurde das Regime von Baschar al Assad.
Westliche Politiker gratulieren zum Sieg über das Regime, haben aber nichts verstanden
Wer hatte das kommen sehen? Westliche Geheimdienste waren völlig blind gegenüber den Vorgängen in der Tiefe Syriens, im Inneren der dortigen Gruppierungen. Sie wussten nichts von den eifrigen Vorbereitungen, die Muhammad al-Jolani in Idlib für eine große Offensive traf. Sie ahnten nicht, welch starke Unterstützung er von der Türkei erhielt. Sie sahen nicht, dass die Divisionen der syrischen Armee reine Kartenhäuser waren, die beim ersten Ansturm kollabieren würden.
Westliche Diplomaten und Politiker haben nicht verstanden, was ein Wechselkurs von (derzeit) 27.000 syrischen Pfund für einen Dollar bedeutet. Sie machten sich nicht klar, was dies für verarmte Soldaten bedeutet, wie das Millionen Menschen beeinflusst, die in bitterer Armut leben und Mehl für Brot brauchen.
Jetzt gratulieren westliche Politiker scharenweise zum Sieg über das Regime, das sie eben noch für stabil hielten. Sie sollten beim Glückwünschen die Gefahren der Islamisten im Blick behalten, die sich unter die Rebellen mischen. Die „Rebellen“ sind eine Ansammlung bewaffneter Milizen unterschiedlich stark religiöser bis radikaler Schattierung.
Wir sollten jetzt auf die Zwischentöne in Syrien horchen
Unter ihnen sind Abtrünnige von al-Qaida wie Jolani selbst. Er hat begonnen, Anzug und Krawatte zu tragen, er gibt sich bürgerlich, redet von Versöhnung und von Garantien für die Rechte von Minderheiten. Das klingt gut, das ist gut. Doch in den Demokratien
sollte man auf Zwischentöne horchen und auf Überraschungen gefasst sein. Viele Menschen in der Stadt und auf dem Land sind bewaffnet, es gibt kriminelle Banden und viele Islamisten.
Mit Demokratie, Parteipolitik, freier Presse und freien Wahlen hat die Bevölkerung keinerlei Erfahrung. Aus dem Konglomerat der Akteure eine geordnete Regierung zu bilden, obwohl dies Jolanis Absicht ist, wird überaus schwer. Daher ist mit einer langen Periode innerer Turbulenzen in Syrien zu rechnen, während im Hintergrund Präsident Erdogan zur einflussreichsten Figur des Szenarios wird . In der Rolle dürfte Erdogan an die Stelle des iranischen Mullah-Führers Ali Khamenei treten.
Syrien: Einige wollen ein neues System, das der Scharia verpflichtet
Bald werden die Golfstaaten in Syrien auf den Plan treten, um sicherzustellen, dass ein neues Regime relativ moderat agiert und nicht in dschihadistische Phantasmen abdriftet. Einige von Syriens Islamisten wollten nicht nur den Sturz Assads, sondern ein neues System, das mehr der Scharia als Menschenrechten und Demokratie verpflichtet wäre, die das Land so dringend braucht wie ein Verdurstender das Wasser. Rechtsstaatlichkeit wird auch bedeuten, die Verbrechen der Vergangenheit aufzuarbeiten, zu ahnden und Opfer zu entschädigen.
Der Jubel darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Syriens traumatisierte Gesellschaft voller Wut, Enttäuschung und Rissen ist. Sunniten und Alawiten trauen einander kaum. Die Türkei hat zwar die Rebellen unterstützt, will jedoch Syriens Kurden unterdrücken. Der Hass auf den schiitischen, autokratischen Iran und dessen Helfershelfer in Syrien wird noch lange nachwirken und Konflikte anfachen.
Nicht nur der Fall Syrien macht deutlich, dass ethnische Nationalstaatskonzepte keine gute Ruhe für den Nahen Osten bringen können. Alle beteiligten Akteure und Geldgeber müssen darauf dringen, dass Syriens Wiederaufbau nicht von ethnischen und religiösen Spannungslinien dominiert und sabotiert wird. Ein verfehlter Transformationsprozess würde die gesamte Region noch mehr destabilisieren. Gelungene Demokratisierung könnte ein Leuchtturm sein.
Aus dem Arabischen Frühling wurde ein islamistischer Winter
Demokratie hat ihren Preis. Wie begeistert hat der Westen vor wenigen Jahren auf den Arabischen Frühling reagiert! Daraus wurde ein islamistischer Winter, und rückblickend erkennen wir die Naivität.
Demokratische Prozesse dauern Jahre, sie brauchen Generationen, um zu reifen. Ein sinnvoller Aufbau investiert jetzt in die demokratische Infrastruktur: demokratische Bildung, Schule für alle, Trennung von Staat und Religion, Dialog, Diskussion, das Infragestellen von Autoritäten – all das ist in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens kaum bekannt.
Der Aufbau einer stabilen, demokratischen Gesellschaft ist die große, nächste Herausforderung für Syrien, und in Zeiten des zunehmenden Autoritarismus die große Herausforderung auch für seine Aufbauhelfer.