Wie kleine Erwachsene - Viele Kinder leiden am „Hurried Child Syndrome“ - wie Eltern damit umgehen sollten

Warum viele Kinder heute schneller erwachsen werden, als sie sollten<span class="copyright">Getty Images/Image Source</span>
Warum viele Kinder heute schneller erwachsen werden, als sie solltenGetty Images/Image Source

„Hurried Child Syndrome“ bedeutet, dass nicht nur wir Erwachsenen, sondern auch unsere Kinder durch ihren Alltag hetzen. „Kinder werden dazu gedrängt, zu früh erwachsen zu werden“, warnt Neuropsychologin Sanam Hafeez. Was Eltern tun können.

Kinder, die unter dem „Hurried Child Syndrome“ leiden, erleben eine Kindheit im Schnelldurchlauf. Oder anders ausgedrückt: Sie werden schneller erwachsen als es ihnen guttut. Diese Kinder werden Druck und hohen Erwartungen ausgesetzt, die über ihre natürlichen Entwicklungsstadien hinausgehen. Dafür gibt es drei Auslöser:

  • Das Elternhaus , das Kinder durch zu viel Förderung überfordern kann,

  • das Schulsystem , das grundsätzlich auf Wettbewerb und Leistung abzielt und durch überladene Lehrpläne zur Eile drängt, und

  • digitale Medien , die unrealistische Erwartungen erzeugen und die Kinder zudem mit Informationen und Emotionen überlasten.

Die betroffenen Kinder werden durch die unterschiedlichen Faktoren dazu gebracht, sich weniger wie Kinder und mehr wie kleine Erwachsene zu verhalten. Viel Förderung, viele außerschulische Aktivitäten und die frühe Auseinandersetzung mit Erwachsenenthemen ersetzen heute immer häufiger freie Nachmittage, an denen Kinder einfach spielen, einfach Kind sein können.

„Kinder werden dazu gedrängt, zu früh erwachsen zu werden und die Sorgen, Verantwortungen und Belastungen des Erwachsenenlebens auf sich zu nehmen“, warnt die New Yorker Neuropsychologin Sanam Hafeez. Es handele sich inzwischen um eine Epidemie.

„Hurried Child Syndrome“ bedeutet zu viel Druck

Dabei ist das Syndrom nicht neu. Der Begriff „Hurried Child Syndrome“ wurde bereits in den 80er-Jahren von dem US-amerikanischen Kinderpsychologen David Elkind geprägt, der jedoch damals schon vermutete, dass es bereits lange vorher existierte. Sicher gab es im Laufe der Geschichte immer Zeiten, in denen Kinder gezwungen waren, schon früh Erwachsenenaufgaben zu übernehmen, etwa im Krieg. Doch die moderne Form des „Hurried Child Syndrome“ weist bedeutende Unterschiede auf:

„Die moderne Version des Syndroms besteht aufgrund der wettbewerbsorientierten Bildungssysteme und der Anforderungen an gesellschaftlichen Erfolg“, meint Psychologin Hafeez. „Manche Eltern melden ihre Kleinkinder für mehrere Kurse an – vom Sprachunterricht bis zum Sport – und glauben, dass dieser Vorsprung ihren Kindern guttun würde.“

Auch auf den Eltern laste Druck. Zum einen durch den ständig zunehmenden Wettbewerb im Bildungswesen, zum anderen durch das heute durch die sozialen Medien größere Bewusstsein darüber, was gleichaltrige Kinder tun oder können. Dies könne bei den Eltern den Eindruck erwecken, dass sie nicht genug tun, um ihr Kind zu fördern.

Kaum noch freie Zeit zum Spielen

„Kulturelle Normen, die Leistung und Erfolg betonen, können Eltern zu der Annahme verleiten, dass fehlende frühe Erfolge die Chancen ihrer Kinder auf zukünftige Erfolge und Möglichkeiten beeinträchtigen“, sagt Hafeez.

Doch es gibt noch andere Faktoren, die eine Rolle spielen können. Manche Eltern würden außerschulische Aktivitäten auch aus wirtschaftlichen Gründen einsetzten. Etwa als zusätzliche Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Auch deshalb komme es immer häufiger vor, dass Kinder kaum noch freie Zeit zum Spielen hätten. Den Eltern sei oft nicht ausreichend bewusst, welche emotionale Belastung das für die Kinder bedeute.

Schließlich wollen die Eltern ihren Kindern nicht schaden. Im Gegenteil, sie wollen ihrem Kind die bestmöglichen Chancen mit auf den Weg geben. Dabei geben sie aus den besten Absichten heraus den gesellschaftlichen Druck, der auf ihnen lastet, an ihre Kinder weiter.

 

Symptome des „Hurried Child Syndrome“

Die beständige Ausrichtung auf Leistung und Wettbewerb lässt den Kindern wenig Raum für Ruhe, freies Spiel und natürliches Wachstum. Und das bleibt nicht ohne Folgen. Untersuchungen haben gezeigt, dass auf diese Weise gehetzte Kinder öfter unter Ängsten und Depressionen leiden. Ein geringes Selbstwertgefühl ist die häufige Folge, wenn Kinder erleben, dass sie den Erwartungen der Erwachsenen nicht gerecht werden. Gehetzte Kinder haben zudem häufiger Schwierigkeiten, gut mit ihren Emotionen umzugehen und gelingende Beziehungen und Freundschaften einzugehen.

Weitere Hinweise auf das „Hurried Child Syndrome“ sind

  • Schlechter Schlaf

  • Schlechte Ernährungsgewohnheiten

  • Zu wenig Bewegung

  • Sorgen und Ängste

  • Perfektionismus

  • Trennungsangst

  • Stottern

  • Geringe Aufmerksamkeitsspanne

  • Hyperaktivität

  • Körperliche Symptome wie Kopf- und Bauchschmerzen

Grund genug also, genau hinzusehen und zu überlegen, wie wir als Eltern Druck von unseren Kindern fernhalten können, statt ihn noch zu verstärken und wie wir unseren Kindern den nötigen Raum verschaffen können, damit sie genug Zeit haben, auf gesunde Weise erwachsen zu werden.

Eltern haben die Möglichkeit, ein starkes Fundament für ihre Kinder zu legen, indem sie…

1. Das Spiel zur Priorität erklären

Zahlreiche Ärzte, Psychologen, Pädagogen und andere Experten sind sich einig in der Ansicht, dass viel Zeit für Spiel, insbesondere für freies, unstrukturiertes Spielen, für die gesunde Entwicklung von Kindern essenziell ist . Spielen unterstützt maßgeblich die kognitive, soziale, emotionale und psychomotorische Entwicklung. Im freien Spiel können Kinder unter anderem

  • Stress verarbeiten

  • ihre Emotionen ausleben und reflektieren

  • kognitive Fähigkeiten wie Problemlösung, Kreativität, Entscheidungsfindung und abstraktes Denken trainieren

  • experimentieren und Neugier entwickeln

  • Teamwork und Kommunikation lernen

Obwohl es Erwachsenen möglicherweise so vorkommt, als sei dies „nichts tun“, bietet diese freie Spielzeit dem Kind eine sichere Umgebung, in der es neue Informationen aufnehmen und verarbeiten kann. Optimalerweise findet das so häufig wie möglich draußen statt. Das ist Förderung ohne Überforderung und denkbar simpel umzusetzen.

2. Volle Terminpläne entrümpeln

Natürlich ist es unmöglich, ausreichend Zeit für das freie Spiel zur Verfügung zu stellen, wenn die Terminkalender voll sind. Es kann sehr sinnvoll sein, als Eltern gemeinsam mit dem Kind zu reflektieren, welche Aktivitäten am Nachmittag wirklich wichtig sind, weil sie dem Kind Spaß machen – und auf welche vielleicht auch verzichtet werden könnte. Entscheidend ist schließlich, dass nicht schon Kinder unter dem Stress eines vollen Wochenplans leiden und vielleicht sogar psychische oder körperliche Symptome entwickeln. Es kann hilfreich sein, mehr Zeit im Terminkalender für Aktivitäten einzuplanen, die Stress erwiesenermaßen entgegenwirken, wie

  • genug Zeit für bewusste Pausen und ausreichend Schlaf, und

  • Familienzeit für gemeinsames Essen, Spielen, Rausgehen oder Kuscheln

3. Erwartungen herunterschrauben

Besonders im Hinblick auf akademische Leistungen ist es für viele Eltern verständlicherweise eine große Herausforderung, den Druck, den sie selbst von der Schule und aus der Gesellschaft aufgebürdet bekommen, nicht an ihre Kinder weiterzugeben. Aber es lohnt sich, denn es schützt die psychische und körperliche Gesundheit der Kinder. Statt zu hohe Erwartungen aufzubauen, sollten Eltern

  • erreichbare Ziele formulieren. Statt Perfektion anzustreben, sollten Sie den Einsatz und die Bemühungen Ihres Kindes wahrnehmen und wertschätzen.

  • Nicht nur das Erreichen eines Ziels loben, sondern auch die kleinen Erfolge auf dem Weg dahin. So schrecken Kinder nicht vor Herausforderungen zurück, sondern entwickeln den Mut und die Ausdauer, sich ihnen zu stellen.

  • Ihrem Kind immer wieder bewusst machen, dass nicht seine Leistungen es liebenswert machen. Bedingungslose Liebe, unabhängig von äußeren Umständen, ist das wertvollste Geschenk.

4. Mit gutem Beispiel voran gehen

Kinder lernen bekanntlich am besten durch Vorbilder. Als Eltern können wir das nutzen und dabei nicht nur unseren Kindern, sondern auch uns selbst helfen, den Stress herunterzufahren. Etwa, indem Eltern

  • vorleben, wie sie eine gesunde Balance zwischen Arbeit und Freizeit finden, indem sie auch selbst bewusst Pausen machen.

  • Reflektieren, was sie selbst in Hektik versetzt und in welchen Momenten sie den Stress vielleicht unbewusst an ihre Kinder weitergegeben haben.

  • Sichtbar machen, dass Fehler zum Leben gehören, dass sie groß und klein passieren und dass sie uns letztendlich helfen, besser zu werden.

  • Bewusst an den Stellen Zeitpuffer einbauen, die bislang immer zu Hektik im Alltag geführt haben.