Klimaforscher Latif im Interview - „Deutschland macht Klimapolitik für Reiche“: Warum wir auf 3 Grad zusteuern

Ist das 1,5-Grad-Ziel überhaupt noch erreichbar? Nein, sagt der renommierte Klimaforscher Mojib Latif.<span class="copyright">Getty Images/500px Prime</span>
Ist das 1,5-Grad-Ziel überhaupt noch erreichbar? Nein, sagt der renommierte Klimaforscher Mojib Latif.Getty Images/500px Prime

Klimaforscher Mojib Latif spricht Klartext: Das 1,5-Grad-Ziel ist eine Illusion, die wir längst verfehlt haben. Trotz politischer Bekenntnisse zeigt die Realität, dass wir uns eher auf eine Erwärmung von drei Grad zubewegen. Schuld sei auch eine ungerechte Klimapolitik.

FOCUS online Earth: Lieber Herr Latif, wie schätzen Sie das weltweite Bemühen um das 1,5-Grad-Ziel ein? Schaffen wir es, die Klimakrise auf 1,5 Grad Erderwärmung gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen?

Mojib Latif: Das 1,5-Grad-Ziel ist eine Illusion. Selbst 1,6 und 1,7 Grad sind äußerst schwierig zu erreichen. Wir stehen jetzt schon bei etwa 1,5 Grad. Die Politik behauptet zwar, am 1,5-Grad-Ziel festhalten zu wollen, aber das ist Unsinn. Bereits die zwölf Monate von Juli 2023 bis Juni 2024 waren über 1,5 Grad. Es gibt eine Trägheit im Klimasystem: Also selbst wenn ab heute global keine Treibhausgase mehr ausstoßen würden, was rein hypothetisch ist, würde die Erwärmung erstmal weitergehen. Es sind außerdem Unmengen an Treibhausgasen in der Atmosphäre, worauf wir in den kommenden Jahrzehnten noch einige draufsetzen werden.

Ist die Lage also aussichtslos?

Latif: Nicht aussichtslos, aber wir müssen es realistisch betrachten. Das Problem ist globaler Natur. Mit der derzeitigen geopolitischen Lage wird selbst das 2-Grad-Ziel kaum erreichbar sein. Erzählen Sie mal Putin, er solle jetzt sofort Abstand von Öl und Gas nehmen, oder den Saudis. Oder China solle in den nächsten Jahren aus der Kohle aussteigen. Ich weiß, es ist eine doofe Botschaft, aber wir müssen die Realität zur Kenntnis nehmen. So wie die Welt derzeit Klimaschutz betreibt, landen wir eher bei 3 Grad. Vielleicht etwas drunter, vielleicht etwas drüber, kommt ganz darauf an, ob die Staaten halten, was sie für den Klimaschutz versprechen. Auf jeden Fall müssen die Länder, die können, unbedingt weitermachen.

Wie würde die Welt aussehen mit 3 Grad? Wie verändert sich das Leben?

Latif: Ganz konkret kann man das nicht vorhersagen. Was wir wissen: Bei drei Grad Erwärmung werden die Folgen erheblich sein. Bereits jetzt bei 1,5 Grad erleben wir immer öfter extreme Wetterereignisse wie Starkregen und Hitzewellen mit den entsprechenden Folgen wie Hochwasser oder Waldbrände. Die Extreme werden bei höheren Temperaturen noch intensiver. Die Meeresspiegel werden weiter steigen, was dazu führen kann, dass Inselreiche wie Tuvalu untergehen. Solche Szenarien zeigen, dass eine Erwärmung um drei Grad schwerwiegende globale Auswirkungen hätte, die wir nicht unterschätzen dürfen. Viele Entwicklungen würden sich über lange Zeit auch nicht mehr rückgängig machen lassen. Wir spielen gerade russisch Roulette mit unserer Erde. Als ob wir in Höchstgeschwindigkeit durch den Nebel auf ein Stauende zu rasen, von dem wir nicht wissen, wie weit weg es ist.

Warum halten Sie es für so schwierig, die globalen Klimaziele von 1,5 Grad oder weit unter 2 Grad zu erreichen?

Latif: Es gibt viele Gründe. Erstens müssten alle Länder ihre Treibhausgasemissionen schnell und massiv senken, und das ist sehr unwahrscheinlich, gerade was die größten Emittenten China und die USA angeht, die für fast die Hälfte der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich sind. Zweitens halten wir zu lange an fossilen Brennstoffen fest, und selbst wenn wir morgen damit aufhören würden, bliebe das CO2 noch sehr lange in der Atmosphäre. Drittens halten viele Länder ihre Versprechen nicht ein, selbst Deutschland hat Schwierigkeiten, seine Klimaziele zu erreichen. Und die Menschen sind müde von dem Thema.

Wie erklären Sie sich diese Klima-Müdigkeit?

Latif: Ich habe mich mit Neurowissenschaftlern darüber unterhalten, und sie sagen, dass man die Zukunft nicht spüren kann. Man kann noch so viele Schreckensszenarien erzählen, aber weil wir es nicht selbst spüren, wird es in unserem Gehirn „downgegraded“. Wir wissen alle, worum es geht, aber es berührt uns nicht, weil wir es nicht spüren. Nur Dinge, die wir spüren, führen letzten Endes zur Handlung.

Aber reicht Ihnen diese Erklärung? Wir hatten das Ahrtal-Hochwasser, extreme Starkregenereignisse und Hitzewellen. Auch in Deutschland ist die Klimakrise mittlerweile angekommen.

Latif: Ja, das verstehe ich selbst nicht ganz. Wir haben kein Wissensdefizit, aber wir kommen nicht ins Handeln. Warum ist das so? In Teilen Ostdeutschlands kann man das sehr gut beobachten wie durch ein Brennglas. Die Leute dort sind krisenmüde: erst die Wende, die viele in eine Krise gestürzt hat, dann Corona und jetzt die Kriege – erst der russische Angriffskrieg, jetzt der Nahe Osten. Die Leute wollen nicht mehr, sie sind einfach erschöpft. Wenn man sie dann noch mit Klima-Thema konfrontiert, haben sie das Gefühl, dass es ihr Leben nur verschlechtert und sie erhebliche Einbußen erleiden müssen.

Wie müsste Deutschlands Klimapolitik aussehen, um genau dort anzusetzen?

Latif: Ganz einfach: man muss sich die Dinge leisten können. Deutschland macht Klimapolitik für Reiche. Ich habe mir ein Elektroauto gekauft, aber wer kann sich das leisten? Ein Universitätsprofessor vielleicht, aber die meisten Menschen nicht. Elektroautos sind sehr teuer und es gibt keine ausreichende Förderung. Zudem, wenn man kein Eigenheim hat, wo soll man das Auto laden? Es gibt kaum öffentliche Ladestationen und das Laden dauert lange. Auch die Bahn ist keine zuverlässige Alternative. Wie oft muss ich Termine absagen, weil die Bahn nicht fährt. Den Menschen wird dadurch das Thema Klima verleidet und dann wird es zu einem Reizwort. Die Klimapolitik muss sozialer werden, damit die Menschen spüren, dass sie auch Vorteile davon haben und nicht nur Nachteile.

Was fordern Sie genau für eine sozialgerechtere Klimapolitik?

Latif: Eine realistische und sozialgerechte Klimapolitik erfordert zunächst den Abbau umweltschädlicher Subventionen. Das Dienstwagenprivileg oder die Agrarsubventionen für umweltschädliche Praktiken müssen abgeschmolzen oder ganz abgeschafft werden. Mit den eingesparten Mitteln könnten neue Technologien gefördert, die deutsche Bahn auf Vordermann gebracht und sozial gerechte Ausgleiche wie ein Klimageld finanziert werden. Es reicht nicht aus, nur Belastungen einzuführen, ohne gleichzeitig den Menschen spürbar zu zeigen, dass Klimapolitik auch Vorteile für ihr Leben bringt.