Kolumne von Ana-Cristina Grohnert - „Können wir die Mauer bitte wieder hochziehen?“ Warum dieser Reflex fatal ist

FOCUS-online-Kolumnistin Ana-Cristina Grohnert (l) und Hochrechnung der Landtagswahl in Thüringen<span class="copyright">privat; Michael Kappeler/dpa</span>
FOCUS-online-Kolumnistin Ana-Cristina Grohnert (l) und Hochrechnung der Landtagswahl in Thüringenprivat; Michael Kappeler/dpa

Der Wahlerfolg der AfD in Sachsen und Thüringen hat eine tiefe Spaltung in Deutschland offenbart. Diese Mauer gilt es jetzt einzureißen und nicht noch höher zu bauen.

Wir haben es kommen sehen. Und sind angesichts der Fakten nun dennoch geschockt. Die AfD ist klare Gewinnerin der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen. Und das, obwohl sie in beiden Bundesländern als gesichert rechtsextrem eingestuft wird.

In Thüringen ist die AfD deutlich stärkste Kraft, gefolgt von der CDU und dem BSW. Die Parteien der Ampelkoalition sind weit abgeschlagen. Auch in Sachsen haben die Ampelparteien deutlich an Boden verloren. Die CDU liegt zwar vorn, aber nur wenige Prozentpunkte vor der AfD.

Fünf Millionen Wahlberechtigte leben in den beiden Bundesländern. Ein großer Teil hat sich bereits bei der Europawahl für die selbsternannte Alternative für Deutschland ausgesprochen und sie zur stärksten Kraft gewählt. Nicht nur im für viele recht abstrakten Europäischen Parlament, auch für die eigene Landesregierung wünschen sich offenbar eine Mehrzahl der Menschen in Thüringen und Sachsen ein starkes Durchgreifen und ein kulturelles Klima nach Verständnis der AfD. Erstaunlicherweise gerade auch junge Menschen.

Zum Weltbild der AfD gehören eine Bevorzugung des „traditionellen Familienmodells“ bestehend aus Mutter, Vater, Kindern. Genauso wie die Förderung von Braunkohle, die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sowie eine Begrenzung des Asylrechts – vor allem für Menschen, die nicht unsere Sprache sprechen oder aus „inkompatiblen Kulturkreisen“ stammen. Was immer man sich darunter vorzustellen hat. So weit, so rückwärtsgewandt.

Ein erster Reflex: Lasst uns die Mauer wieder hochziehen!

Ein erster Reflex, den ich von vielen Menschen in meinem Umfeld gehört habe, und der mir selbst nicht ganz fremd ist, lautet: „Können wir bitte die Mauer wieder hochziehen?“ Oder, wie es Wolf Biermann gerade in einem Gespräch mit der „ZEIT“ formuliert hat: „Die, die zu feige waren in der Diktatur, rebellieren jetzt ohne Risiko gegen die Demokratie. Den Bequemlichkeiten der Diktatur jammern sie nach, und die Mühen der Demokratie sind ihnen fremd.“

Wir, die wir in Metropolen in Westdeutschland leben, interessante Jobs und einen diversen Freundeskreis haben und von kultureller Vielfalt profitieren, tun uns extrem schwer mit der Stimmungslage im Osten. Aber es nützt nichts, die Menschen dort einfach für blöd, gestrig und bequem zu halten.

Eine Freundin von mir hat einmal gesagt: „Die Menschen im Osten sind in der jüngeren Vergangenheit dreimal betrogen worden. Nach dem Krieg wurde im sowjetischen Sektor deutlich weniger für den Wiederaufbau getan als in den von den westlichen Mächten besetzten Gebieten. In der DDR wurden sie vielfach enteignet und in ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit beschnitten. Und nach der Wende haben vor allem westliche Unternehmen von der Zerschlagung der Planwirtschaft profitiert.“

Interesse und Verständnis für die Situation der Menschen in Ostdeutschland

Es hilft deshalb, mit etwas mehr Interesse und Verständnis auf die Situation zu schauen. Was führt denn dazu, dass sich die Menschen im Osten vielfach abgehängt fühlen und den Heilsversprechen der AfD glauben? Wie kommt es, dass 35 Jahre nach der Wende die Spaltung zwischen Ost und West eher tiefer zu werden scheint?

Ich habe keine Antworten darauf und maße mir auch nicht an, die Gefühlslage der Menschen in Ostdeutschland zu beurteilen. Aber ich lese viel, und versuche mir ein Bild zu machen. Politik- und Sozialwissenschaftler bieten verschiedene Erklärungsversuche an.

Zum einen ist der Osten Deutschlands vielfach ländlich geprägt. Und in diesen Regionen werden strukturelle Probleme deutlicher sichtbar, wie beispielsweise der Ärzt:innenmangel, eine mangelhafte Verkehrsinfrastruktur oder fehlende Betreuungsangebote für Kinder.

Und auch 35 Jahre nach der Wende geht die finanzielle Schere zwischen Ost und West eher weiter auseinander, als dass sie sich schließt. Das Lohnniveau ist im Westen immer noch höher, die Ostgehälter liegen durchschnittlich bei 82 Prozent der Werte im Westen. Auch wird in den ostdeutschen Bundesländern deutlich weniger vererbt und entsprechend weniger geerbt.

Es findet eine Abstimmung mit den Füßen statt: Ein paar Jahre schien es, als hätte der Osten sein Abwanderungsproblem überwunden: Von 2017 an zogen mehr Menschen von Westdeutschland nach Ostdeutschland als umgekehrt. Doch der Trend währte nur kurz. 2023 zogen wieder mehr Menschen von Ost nach West. Unter den 88.000 Weggezogenen waren vor allem Junge und Ausländer:innen gewesen – ein deutliches Signal, für die wahrgenommene Zukunftsfähigkeit der Region.

Die im Sozialismus aufgebaute Abneigung gegenüber Fremden wirkt immer noch nach

Ein weiterer Erklärungsversuch: Forschungsarbeiten der vergangenen Jahre zeigen, dass die Bürger im Osten einander viel weniger vertrauen als die Bürger im Westen. Dieses Misstrauen gilt gegenüber Mitbürgern und staatlichen Institutionen. Als Gründe führen die Forschenden die Bespitzelung durch den Staat und auch durch andere Bürger an. Außerdem war in sozialistischen Regimen das Freund-Feind-Denken deutlich ausgeprägter, und es gab weniger Kontakte zu Menschen anderer Nationalitäten.

Eine aktuelle Forschungsarbeit der Ludwig-Maximilians-Universität in München zeigt außerdem einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Standort, an dem eine Person studiert, und ihrer politischen Einstellung auf. Menschen, die im Osten studiert haben, stehen Flüchtlingen und Immigration deutlich ablehnender gegenüber als Studierende aus dem Westen. Dafür ist ihr Zuspruch für national-konservative Parteien stärker ausgeprägt. Die Forschenden gehen davon aus, dass sich die im Sozialismus aufgebaute Abneigung im Osten gegenüber Fremden noch heute auf die Einstellung der Menschen auswirkt.

Überforderung weckt den Wunsch nach einfachen Lösungen

Fairerweise muss man auch sagen, dass die aktuelle Ampelregierung nicht den Eindruck vermittelt, die dringenden Probleme unserer Zeit in den Griff zu bekommen. Oder überhaupt Lösungsansätze parat zu haben.

Ich habe den Eindruck, dass bei vielen Menschen die multiplen aktuellen Krisen zu einem Gefühl der Überforderung führen. Das weckt den Wunsch, Verantwortung abgeben zu können. In solchen Zeiten ist immer die Anziehungskraft von vermeintlich „starken Parteien“ groß, die mit „dem Establishment“ aufräumen und dem „kleinen Mann“ wieder eine Stimme geben. Genau das erleben wir in den USA und in vielen anderen Ländern, wo Populisten mit anscheinend einfachen Lösungen große Erfolge feiern.

 

Unsere Aufgabe als Gesellschaft besteht darin, dass wir diesen Menschen, die frustriert und teilweise verzweifelt sind, Lösungen aufzeigen. Aber echte Lösungen, im Rahmen von demokratischen Parteien und Initiativen. Denn ganz ehrlich: Was soll denn ernsthaft besser werden, wenn die AfD in der Regierungsverantwortung ist? Da fällt mir nicht viel ein.

Wir müssen eine weitere Spaltung der Gesellschaft verhindern

Wir springen zu kurz, wenn wir über die AfD-Wähler schimpfen und sie für doof erklären. Das führt nur zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft zwischen den vermeintlichen „Eliten“ und den „einfachen Leuten“ – auch das können wir in den USA beobachten.

Eine Studie des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung an der Universität Leipzig zeigt auf, dass sich viele Menschen in den ostdeutschen Bundesländern nicht mehr demokratische Teilhabe wünschen, sondern vielmehr die scheinbare Sicherheit einer autoritären Staatlichkeit.

Aber wir müssen ganz klar feststellen: In einer autoritären Staatlichkeit gibt es keine Sicherheit – höchstens für eine kleine Gruppe, die genau „auf Linie“ mit dieser Autorität ist. Das haben alle totalitären Regime der Vergangenheit und Gegenwart gezeigt.

Wir müssen uns doch fragen, warum diese Menschen einer autoritären Partei wie der AfD mehr zutrauen als einer demokratischen Gesellschaftsordnung. Ich glaube, es gibt für dieses Dilemma keine einfachen Lösungen, keine eindeutigen Antworten.

Wir können nur zuhören, miteinander reden, für Bildung sorgen. Und so versuchen, wieder mehr aufeinander zuzugehen und jeder gesellschaftlichen Gruppe das Gefühl zu geben, dass dieses Land auch für sie viel zu bieten hat. Auch das ist Diversity: Der desillusionierte Ostdeutsche hat in unserer Gesellschaft ebenso Platz, wie die bisexuelle Muslima. Also: Weg mit der Mauer, vor allem in den Köpfen. Und das gilt für sämtliche Beteiligte!