Kolumne von Ana-Cristina Grohnert - Neonazis kapern CSDs: Sachsen muss uns genauso aufregen wie Sylt
Als Party-Gäste im Juni auf Sylt ausländerfeindliche Parolen grölten, empörte sich Deutschland tagelang. Jetzt suchen Neonazis gleich zwei CSD-Veranstaltungen in Sachsen heim - und es bleibt seltsam still.
Der Aufschrei war groß. Tagelang wurde nach Pfingsten über ein paar schnöselige junge Menschen gesprochen, die in einem Sylter Nobel-Club grässliche Neonazi-Parolen gegrölt hatten.
Als am vorvergangenen Wochenende mehr als 800 Menschen auf den Straßen von Bautzen offen die gleichen Sätze skandierten, hielt sich die Aufregung in Grenzen. „Deutschland den Deutschen, Ausländer aus“, auch diesmal gibt es Videos davon. Auf den Bildern sieht man einen grölenden Pulk Menschen, zumeist junge Männer. Martialisch auftretend, schwarz statt bunt gekleidet. Kurze Haare, manche mit Glatze.
Angemeldet war eine Demo gegen den örtlichen CSD. Gegen einen bunten, gut gelaunten Umzug queerer Menschen mit 1000 Teilnehmenden, dessen Abschlussparty am Ende aus Sicherheitsgründen abgesagt werden musste. Unter „Zünd es an“-Rufen versuchten die Nazis am Bautzener Bahnhof, eine Regenbogen-Fahne zu verbrennen.
Und nur eine Woche später, am letzten Samstag, ähnlich grässliche Bilder. Diesmal am Leipziger Hauptbahnhof, wo sich Hunderte Rechtsextreme gegen den an diesem Tag stattfindenden CSD versammelten.
Rechtsextreme bei CSD in Bautzen und Leipzig: Wo bleibt der Aufschrei wie bei Sylt?
Während wir uns über Sylt also tage-, sogar wochenlang empörten, bleibt die Reaktion auf den viel größeren, viel offener zur Schau gestellten Hass in Sachsen vergleichsweise zurückhaltend. Schockt offenbar nicht mehr.
Haben wir bereits aufgegeben? Empfinden wir rechtsextremes Gedankengut inzwischen als selbstverständlich in Ostdeutschland? Stell Dir vor, es herrscht Krieg und keiner guckt mehr hin?
Wenn ich mit Menschen darüber in meiner urbanen Bubble rede, ernte ich oft nur noch ein Schulterzucken.
Erst Anfang des Monats hatte der Bautzener Oberbürgermeister (CDU) die „Sicherheitsrunde“ einberufen, ein Gremium aus Polizei, Staatsschutz und Stadtverwaltung. Es ging um einen Angriff auf den Jugendclub „Kurti“ wenige Tage zuvor. Sechs Vermummte hatten dabei Besucherinnen und Besucher vor dem Club geschlagen und getreten. Nicht zum ersten Mal.
Es erschreckt mich, wie selbstsicher Neonazis inzwischen Parolen schreien
Nun gibt es unter anderem eine „verstärkte polizeiliche Bestreifung“. Und Polizei und Staatsschutz forderten „alle Betroffenen auf, den Mut aufzubringen, Vorfälle ausnahmslos anzuzeigen“.
Ernsthaft? Brauchen wir inzwischen Mut, wenn wir Übergriffe, Angriffe auf unser Leben, auf unsere Grundrechte, auf unsere Demokratie melden wollen?
Es erschreckt mich, wie selbstsicher, wie scheinbar unantastbar Neonazis inzwischen auf unseren Straßen menschenverachtende Parolen schreien. 800 grölende Rechtsextreme gegen 1000 feiernde CSD-Teilnehmende. Der „Wir sind mehr“-Spruch gilt. Aber nicht mehr lange, wenn das so weitergeht.
Egal ob Sylt oder Sachsen: Es darf uns nicht egal sein
Übrigens: Im Juni waren in Bautzen Stadtrats- und Ortsratswahlen. Stärkste Partei wurde dabei erstmals die AfD mit 29 Prozent der Stimmen, ein Plus von 5,8 Prozent im Vergleich zu 2019. Die Ampel kam gerade mal auf 4,8 (SPD), 4,2 (Grüne) und 1,4 Prozent (FDP).
Am 1. September folgen in Sachsen Landtagswahlen. Die AfD strebt 40 Prozent und mehr an. Der Spitzenkandidat der AfD im Wahlkreis Bautzen 1 fordert unter anderem ein Verbot weiterer Windkraftanlagen und „Asylheime“ – und gleichzeitig die Abschaffung der Biersteuer.
In diesem Sinne: Wenn Hopfen und Malz verloren sind, darf uns das nicht egal sein.
Egal ob Sylt oder Sachsen.