Kolumne von Susanne Nickel - Bloß keine Kritik! Rasenmäher-Eltern ziehen verweichlichte Jugendliche heran
Es ist traurig, wenn die Schönwettergesellschaft einer reichen Gemeinde einem Fußball-Weltmeister vorschreiben will, wie er ihre Kinder trainieren soll. Kein Wunder, also dass Matthäus hingeschmissen hat. Er tat gut daran. Denn seine Kritik offenbart, was schiefläuft bei der Erziehung.
Kennen Sie Grünwald? Nein? Dann leben Sie – im Gegensatz zu mir – nicht in Bayern. Was nicht schlimm ist, so ist es nicht gemeint. Verpasst haben Sie ohnehin nichts.
Ich will damit nur sagen: Bei uns in Bayern ist Grünwald ein Begriff für Geld, viel Geld, Reichtum, manchmal auch Protz. Wer hier lebte oder lebt, hat es zu etwas gebracht.
Schauen Sie mal bei Wikipedia in die Liste der Promis, die unter „Mit Grünwald verbunden“ stehen. Viele der besten Fußballspieler des FC Bayern wohn(t)en in dem Ort, an der südlichen Grenze zu München.
Bei so viel Fußballprominenz darf es natürlich nicht an Nachwuchs fehlen. Und damit der auch gut gedeiht, war beim TSV Grünwald eine Ikone des deutschen Fußballs als Trainer für Kids engagiert. Lothar Matthäus – unser Loddar! Doch der hat hingeschmissen, Schnauze voll.
Das macht man mit einem Loddar Matthäus nicht!
Stellen Sie sich vor: Da rufen Eltern bei ihm an und meckern, was er denn so den lieben langen Tag treibt. Nämlich (angeblich) zu wenig. Nicht mit mir! So wird er gedacht haben. Das macht man mit einem Loddar Matthäus nicht! Das lässt er sich nicht bieten.
Die Vorwürfe der Väter und vermutlich auch Mütter haben Matthäus, den ich flüchtig privat kenne – ein netter Kerl –, so sehr genervt, dass er den Trainerjob beendet hat. Und soll ich Ihnen was sagen? Ich verstehe ihn.
Damit bin ich am Punkt, ab dem ich die Ironie beende. Matthäus hat nämlich einige der Dinge benannt, die hierzulande schieflaufen, die erklären, warum so viele Kinder Schwierigkeiten im Erwachsenenalter haben.
„Die Spieler haben weniger Probleme gemacht als die Eltern der Kids“, erklärte er bei „Sky 90 - die Fußballdebatte“. „Und dann habe ich mir gedacht, den ganzen Tag am Telefon hängen und anhören müssen, was ich alles falsch mache“ – auf keinen Fall. Zum Beispiel: „Jedem sein Kind spielt zu wenig.“
Als Matthäus das Traineramt vor gut zwei Jahren übernahm, klang er noch überzeugt: „Es geht darum, den Kindern den Sport nahezubringen, dass sie das Miteinander und auch mal das Verlieren kennenlernen.“
Eltern nerven mehr als ihre Kinder
Ich habe zu wenig Ahnung von Fußball, um auch nur ansatzweise die Qualitäten von Matthäus einschätzen zu können. Aber das spielt hier auch keine Rolle. Ich finde es nämlich sehr traurig, wenn die Schönwettergesellschaft von Grünwald einem Fußball-Weltmeister vorschreiben will, wie er die Sprösslinge trainieren soll.
Auch als ich von seinem Motiv las, bin ich zusammengezuckt. Eltern nerven mehr als Kinder. Herrje. Dabei sollten die Mütter und Väter dankbar sein, dass ihr Kind von einer Fußballlegende trainiert wird, statt zu mäkeln.
Noch schlimmer: So ist es auch in vielen Schulen, Kindergärten und anderen Sportvereinen, dass Eltern gerne dazwischen grätschen, denn sie wissen es einfach besser. Elternengagement ist richtig und wichtig. Aber nicht so. Das geht nach hinten los.
Obwohl – wie gesagt – Fußball nicht meine Kernkompetenz ist, bringe ich ihn auch in meinem Buch zur Generation Z als Beispiel. Ich schrieb darüber, wie schwierig es ist, Profi zu werden.
Ich zitiere: „Die Anforderungen sind enorm, das Auswahlverfahren hart, die Auslese brutal. Nur die Topleute kriegen einen Vertrag in Teams der besten Profi-Ligen und verdienen traumhaft hohe Gehälter. Was zählt, ist allein: Top-Leistung. Danach richtet sich der Marktwert. Und für den muss man jeden Tag trainieren, trainieren, trainieren. Es reicht nicht aus, wenn Eltern immer wieder sagen: ‚Du bist klasse, du kommst ganz groß raus, denn du bist etwas ganz Besonderes.‘“
Verlieren können Kinder von heute nicht
Doch genau diesen Satz hören behütete Kinder in Grünwald und anderswo in Deutschland Tag für Tag. „Du bist klasse, du kommst ganz groß raus, denn du bist etwas ganz Besonderes.“
Das macht vordergründig selbstbewusst und vermittelt das Gefühl, zu den Privilegierten zu gehören, für die der Aufstieg in die Top-Ligen der Gesellschaft – und natürlich des Fußballs – geebnet und reine Formsache ist. Nur sieht die Realität anders aus.
Verlieren können Kinder von heute nicht, weshalb der Wettkampf in Schulen abgeschafft wird. Niemand will Tränen sehen. Dabei sind Niederlagen wichtig, um das eigene Potenzial und Können richtig einzuschätzen.
Die Verantwortung für die Misere haben die Mütter und Väter, die – tatsächlich und im übertragenen Sinn – am Spielfeldrand stehen und ihre Söhne und Töchter nicht anfeuern, bei Siegen jubeln und bei Niederlagen trösten, sondern die reinbrüllen und reingrätschen.
Aus den Helikopter-Eltern, die ständig um die Kinder kreisen, sind etwas aggressivere Unterformen entstanden. Die sog. Curling- oder Rasenmäher-Eltern wischen jeden noch so winzigen Staubkorn auf der Eisbahn weg oder säubern die Wiese so fein, damit das Kind ja nicht hinfällt, also keine schlechte Erfahrung macht und merkt, dass man auch verlieren kann im Leben.
Die Kinder, die Lothar Matthäus trainiert hat, gehören der Generation Alpha an (Jahrgänge 2010 – 2025) und sind wie die Generation Z davor (Jahrgänge 1995 – 2010) häufig von überfürsorglichen und überengagierten Eltern geprägt.
Kritikfähig? Nein, es sind immer die anderen schuld
Fatal ist, was damit angerichtet wird. Diese falsche Erziehung ist meiner Ansicht nach, warum so viele Jugendliche später im Berufsleben Schwierigkeiten haben oder scheitern. Sie vertragen keine Kritik, weil sie es nicht von daheim gewohnt sind.
Die Prinzessinnen und Prinzen von Mama und Papa haben doch immer gehört: „Du bist klasse, du kommst ganz groß raus, denn du bist etwas ganz Besonderes.“ Dass das Kind einfach untalentiert ist – no way. Der Trainer ist schuld! Der lässt den Buben nicht genug ran und sieht und/oder fördert sein Talent nicht ausreichend.
Im Berufsleben geht das weiter. Mütter und Väter stehen sofort parat, wenn ihr Nachwuchs Bockmist in der Arbeit gemacht hat oder wenn es zu anstrengend wird, um das Kind mit allen Mitteln zu beschützen. Statt zu sagen: Du hast es versaut, rücke es wieder gerade oder jetzt heißt es auch mal durchzuhalten!
Mir graut schon, wenn die ersten Auszubildenden wieder auf der Matte in vielen deutschen Unternehmen stehen und ich Geschichten wie diese zu hören bekomme: Eine Woche nach Start der Ausbildung kommt die Mutter mit dem Jugendlichen in die Schreinerei und moniert: „Der Maxi kann das hier nicht länger machen, der Hobel ist viel zu schwer und den ganzen Tag stehen, ist einfach zu anstrengend für ihn.“
Auch Ausbildungsleiter haben bei mir schon ihr Leid geklagt: „Räder aufziehen, das ist unter meiner Würde.“ Selbst an die mitzubringenden Unterlagen für den ersten Arbeitstag wird überwiegend nicht gedacht, mit dem Hinweis: Mama und Papa machen das schon.
Im Berufsleben sieht die Realität auf einmal anders aus
Aber die Tragik ist: Im Berufsleben merken die jungen Leute, dass die Realität anders aussieht als Wolkenkuckucksheim, dass sie normal und nichts „ganz Besonderes“ sind.
Armes Deutschland. Es hat solche Eltern nicht verdient. Und auch wenn ich nicht weiß, was Lothar Matthäus getan hat oder nicht, wie engagiert er als Trainer war oder nicht, behaupte ich trotzdem: Die Grünwalder Schönwettergesellschaft steht für ein gesamtdeutsches Problem.
Und deshalb verstehe ich den Fußball-Weltmeister, dass er gesagt hat: Tschüss, macht ohne mich weiter. Und ich bin ihm dankbar, dass er es öffentlich gemacht hat.