Kommentar von Ökologe Ibisch - Rücksichtslosigkeit vieler Klimaschützer hat fatale Folgen für die Natur

In Oberen Wesertal führte Starkregen zu Überflutungen und Millionenschäden. Forstwirtschaft und Windkraftanlagen könnten mitverantwortlich sein. Ökologe Pierre Ibisch appelliert, Klimaschutz und Waldnutzung dürfen nicht die Leistungsfähigkeit der Natur gefährden.

Anfang August ereignete sich im nordhessischen Reinhardswald ein Unwetter. Im Raum Trendelburg fielen innerhalb weniger Stunden bis zu 150 Liter Regen pro Quadratmeter. Wasser und Schlamm flossen in Sturzbächen Hänge und Wege hinunter, Straßen verwandelten sich in reißende Ströme, es kam zu Erdrutschen und in der Folge zu erheblichen Sachschäden. Noch immer sind die Menschen in Gieselwerder und Gottsbüren mit den Aufräumarbeiten beschäftigt.

Bundesweit haben die Nachrichten aus dem Oberen Wesertal kaum Entsetzen ausgelöst. Zum Glück hatten Anwohner und Rettungskräfte schnell und richtig reagiert, es gab „nur“ einen hohen Millionenschaden. Es war ein weiteres der vielen Unwetter, von denen wir inzwischen regelmäßig hören und an die wir uns zu gewöhnen scheinen.

Wahrscheinlich war diese „Blitzflut“ eine Folge des menschengemachten Klimawandels. Die Hitzerekorde der letzten Jahre und Monate haben die Ozeane stark erwärmt, viel Energie und Wasser sind in der Atmosphäre unterwegs. Wetterextreme nehmen zu - nach mehreren Dürre- und Hitzejahren gibt es nun immer wieder Starkregen-Ereignisse von teilweise bisher unbekanntem Ausmaß. Es wäre aber zu einfach, das Ereignis allein mit dem Wetter zu erklären.

Dass das Unwetter im Reinhardswald so verheerend gewütet hat, hängt sicher auch mit der Landschaft zusammen, in der das Wasser niedergegangen ist. Bebauung und Versiegelung von Flächen für Straßen und Siedlungen spielen immer eine Rolle, der Verlust von Feuchtgebieten, die Kanalisierung von Wasserläufen. Auch wenn das Wasser in Wäldern nicht durch Baumkronen gebremst wird und in Laubstreu und humusreichen Böden versickern kann, kommt es zu einem verstärkten oberflächlichen Abfluss des Wassers.

Überall dort, wo Wasser auf nackten Boden trifft, kommt es schnell zu Erosion und Auswaschung von Bodenbestandteilen und Nährstoffen. Plötzliche Starkregen-Ereignisse sind in übernutzten und entwaldeten Landschaften, zum Beispiel in Trockengebieten oder tropischen Gebirgen, schon lange ein großes Problem. Jetzt auch in Deutschland.

Der Umgang mit Wald und Waldböden macht die Landschaft anfälliger für den Klimawandel

Die Gefahr ist in den letzten Jahren bundesweit enorm gestiegen, da viele Forsten durch Hitze und Trockenheit großflächig geschwächt sind. Wenn absterbende und abgestorbene Bäume geräumt und abtransportiert werden und dabei die empfindlichen Böden befahren und verdichtet werden, kommt es bei Starkregen zu den beschriebenen Problemen - vor allem, wenn Hanglagen betroffen sind.

Auch im Reinhardswald kam es zu großflächigen Waldschäden. Die Monokulturen starben ab, die toten und kranken Bäume wurden großflächig geräumt, zurück blieben ungeschützte Böden. Teilweise wurde auf diesen Flächen sogar der Oberboden abgeschoben und bis auf den Fels gepflügt. An steilen Hängen hatten sich in den letzten Jahren auf solchen geschundenen Waldflächen tiefe Rinnen gebildet, in denen das Wasser talwärts rauschte und dabei den Boden und auch wertvolle Nährstoffe für die Pflanzen mit sich riss. Vor diesen Problemen wurde schon vor Jahren gewarnt.

Es mutet kühn an, wenn Hessenforst in diesen Tagen öffentlich verkündet, die Forstpolitik der letzten Jahre habe dazu beigetragen, dass die Katastrophe nicht noch größer geworden sei. Das ist eine leichtfertige Behauptung, die von einer möglichen Mitverantwortung ablenken soll. Vielmehr müssen die forstlichen Akteure jetzt mit Messungen und Modellen nachweisen, dass Waldwege, großflächige Kahlschläge und Rodungen sowie Bodenverdichtung und -bearbeitung keine gravierenden hydrologischen Folgen hatten und haben.

Verschärft wurde die Situation im Reinhardswald durch die Vorbereitungen für den Bau von Windkraftanlagen. Neue Lichtungen wurden in den Wald geschlagen, entlang der Zufahrtsstraßen litten die Bäume unter zusätzlicher Hitze und Trockenstress. Böden wurden durch Befahrung verdichtet, so dass sie weniger oder gar kein Wasser mehr aufnehmen können. Die Erschließungswege wurden zum Teil mit erheblichen Steigungen durch den Wald gezogen. So war es nicht verwunderlich, dass das Wasser nach den Starkregen-Ereignissen genau diese Wege nutzte und die Überschwemmungen weiter unten noch verstärkte.

Besonders erschreckend erscheint die Tatsache, dass nur wenige Tage nach der Flutkatastrophe im Tal oben auf den kahlen Flächen und Waldwegen schon wieder schweres Gerät unterwegs war, um Baumstümpfe aus dem Waldboden zu reißen und abzutransportieren.

Dies geschieht ausgerechnet im Reinhardswald, wo sich Anwohner und Aktivisten in den letzten Jahren sachkundig - aber bisher erfolglos - für den Erhalt der Waldökosysteme und Böden eingesetzt haben. Sie wurden dafür politisch verunglimpft und angezeigt. Aber liegen sie nicht auch falsch, wenn sie sich dagegen wehren, dass Windkraftanlagen gebaut werden, um die klimaschädliche Verbrennung zur Energiegewinnung zu ersetzen? Ohne Klimaschutz geht der Wald sowieso kaputt, heißt es.

Auf der einen Seite lautet die Antwort Ja. Die Extremereignisse und ihre Folgen zeigen, dass der Klimawandel für Mensch und Natur immer gefährlicher wird - wir müssen den menschengemachten Treibhauseffekt unbedingt begrenzen.

Auf der anderen Seite muss man die Frage aber auch mit Nein beantworten. Denn das heißt nicht, dass jede Maßnahme überall richtig ist. Waldrodungen für den Klimaschutz sind aus ökosystemarer Sicht ein Skandal.

Klimaschutz ist überlebensnotwendig - die Natur auch

Die ökologische Rücksichtslosigkeit vieler technischer und technokratischer Klimaschützer hat nicht nur für die Natur, sondern auch für die Gesellschaft fatale Folgen ; sie nährt Polarisierung und unsachliche Debatten.

„Ja zum Natur- und Umweltschutz, aber Nein zum Klimawahn!“ Das war eine Leserreaktion auf einen in  Focus online  erschienenen  Appell für eine überparteiliche Bewegung und Widerstand gegen Naturzerstörung . „Das Klima kann man weder retten noch schützen noch konservieren, den menschlichen Einfluss auf Natur und Umwelt aber schon beeinflussen!“ Das war ein weiterer Leserkommentar. Stimmt das?

Die wissenschaftliche Antwort ist notwendigerweise komplex. Die Menschheit beeinflusst inzwischen alle relevanten Teile des Erdsystems: die Atmosphäre, in der das Klima stattfindet, die Biosphäre, in der sich das Leben abspielt, die Hydrosphäre, also die Ozeane und alle Gewässer der Kontinente, sowie auch die sogenannte Pedosphäre, die Böden.

Alle diese Bestandteile des globalen Ökosystems geraten in einen krisenhaften Zustand - und das hat leider immer damit zu tun, dass die Menschheit auf zu großem Fuß lebt und das globale Ökosystem zutiefst überfordert.

Der menschgemachte Klimawandel entsteht vor allem durch die Treibhausgase, die durch die Verbrennung von fossilen Brennstoffen freigesetzt werden, durch die Vernichtung von Wäldern, aber auch durch das Trockenlegen von Mooren und die schlechte Behandlung von Böden. Die Bereitstellung von Energie für unseren Lebensstil und die Landwirtschaft zur Nahrungserzeugung sind hauptverantwortlich für die derzeitige schnelle und gefährliche Veränderung des Klimas.

Die Beweise dafür sind erdrückend und lassen sich nur leugnen, wenn man sich nicht mit ihnen beschäftigt oder ein Gegner der Wissenschaft ist. Außerdem sollte gelten, dass, wenn wir einen Klimawandel durch Emissionen in Gang gesetzt haben, ihn auch bremsen können sollten.

Das Klima an sich ist nicht schutzbedürftig, das stimmt - aber es ist für uns Menschen brandgefährlich, die klimatischen Bedingungen, unter denen unsere Zivilisation entstanden ist und unter denen wir gelernt haben, Milliarden von Menschen zu ernähren, innerhalb kürzester Zeit abzuschaffen.

Auch wenn das Wort vielleicht nicht optimal ist: Wir brauchen dringend „Klimaschutz“. Aber dieser für uns überlebenswichtige Zweck heiligt nicht alle Mittel. Es ist geradezu absurd, wenn durch technische Klimaschutzmaßnahmen Ökosysteme geschwächt werden, die zum einen selbst zum „natürlichen Klimaschutz“ beitragen und zum anderen für viele andere Ökosystemleistungen des Menschen dringend benötigt werden - etwa für den Erosions- und Hochwasserschutz bei Starkregen-Ereignissen.

Während wir einerseits beklagen, dass es unseren Wäldern im Zuge des Klimawandels immer schlechter geht, wollen wir sie zur industriellen Stromerzeugung nutzen? Finden wir es in Ordnung, dass für die Energiewende Schwerlasttrassen und Kahlflächen im Wald neu angelegt werden? Häufig wird argumentiert, es sei nicht schlimm, Flächen, auf denen der Wald durch Extremwetter und Borkenkäfer geschädigt ist, für den Bau von Windkraftanlagen zu nutzen. Dabei wird schlichtweg übersehen, dass sich der Wald alternativ ohne breite Wege und Schneisen viel besser erholen würde und es auch nicht zu einer großflächigen und dauerhaften Verdichtung und Zerstörung des Waldbodens kommen würde.

Ökosysteme, die wir durch Nutzung und Zerschneidung, durch technischen Druck, aber auch durch Belastungen mit Stoffen aller Art stärker beansprucht haben, leiden stärker unter dem Klimawandel. Die Natur wiederum stabilisiert das Weltklima, indem sie Treibhausgase wieder aufnimmt und Kohlenstoff in Vegetation, Böden oder Meeren bindet. Doch Hitze und Trockenheit beeinträchtigen diese Fähigkeit. Alles ist komplex miteinander verwoben, die Probleme verstärken sich gegenseitig. Es ist wie verhext. Was immer wir tun, es wird an der einen oder anderen Stelle falsch sein.

Sind wir dazu verdammt, das Falsche zu tun?

Und nun? Eigentlich wäre es das Beste, die Natur in Ruhe zu lassen und die Zusammensetzung der Atmosphäre nicht weiter zu verändern - und beides möglichst gleichzeitig! Leider spricht vieles dagegen: Wir müssen essen, wollen wohnen und bauen, fahren und fliegen, lesen im Internet und schreiben E-Mails. Wir wollen Stahl produzieren, Smartphones und vieles mehr. Gleichzeitig sollen Himmel und Wasser blau sein, die Landschaft schön, es soll nicht stinken und es soll nicht laut sein - vor allem dort, wo wir leben. Geht das alles zusammen? Die schlechte Nachricht: Auf keinen Fall!

Also lügen wir uns in die Tasche, reden uns heraus - einzeln und als Gesellschaft. Diese Kreuzfahrt ist noch in Ordnung, denn das Schiff fährt ja sowieso. Und man kann ja Bäume pflanzen gegen den Klimawandel, an eine Naturschutzorganisation spenden - oder gleich abstreiten, dass es überhaupt Probleme gibt. Das Klima hat sich schon immer verändert, wir können es eh nicht beeinflussen, und in China ... - ja, in China gibt es viel mehr Menschen, die Treibhausgase produzieren.

Stimmt - die machen das unter anderem, weil sie dort viele Dinge produzieren, die wir von ihnen kaufen. Wir täuschen uns und verheddern uns mit unseren Argumenten und Meinungen in diesem großen komplexen Erdsystem mit unseren vielen Bedürfnissen in dieser vollen Welt. Am Ende führen Lösungen wie Windkraftanlagen im Wald zu weiteren Problemen.

Es ist komplex, aber dieser Komplexität müssen sich bitte auch diejenigen stellen, die für die Nutzung der Natur unseres Landes und für die Energiebereitstellung verantwortlich sind. Es ist absolut richtig, möglichst keine Energieträger mehr zu verbrennen und Kohlendioxid freizusetzen. Der Ausbau von Solar- und Windenergie ist wichtig, aber nicht um jeden Preis und nicht überall.

Strom muss vorrangig dort erzeugt werden, wo er gebraucht wird und wo die Erzeugung verträglich mit anderen Flächennutzungen kombiniert werden kann. Es gibt nichts umsonst auf dieser Welt. Jede Energieerzeugung ist auch umweltbelastend. Weil sie Platz braucht, weil sie immer Nebenwirkungen hat, etwa durch Eingriffe in Ökosysteme, aber auch weil sie Rohstoffe wie Lithium oder Kupfer braucht, die irgendwo aus der Erde geholt werden müssen. Es ist unverantwortlich, eine Energiewende anzustreben, ohne gleichzeitig den Stromverbrauch deutlich zu senken und die Natur zu schützen.

Wir müssen das Klima schützen, die Natur, die Böden, das Wasser, die gesamte Umwelt. All das brauchen wir für ein gutes Leben und für unsere Sicherheit. Es kann nicht zu viel verlangt sein, die verschiedenen Schutzbemühungen so zu organisieren, dass sie sich nicht gegenseitig gefährden. Im Reinhardswald und überall.