Kommentar von Andreas Herteux - Absturz der Grünen: Vom Höhenflug zur Bruchlandung

Die kommenden Landtagswahlen und die Bundestagswahl 2025 werden zeigen, ob die Partei in der Lage ist, sich aus ihrer Krise zu befreien oder ob sie weiter abgleitet.<span class="copyright">Getty Images / Sean Gallup / Staff</span>
Die kommenden Landtagswahlen und die Bundestagswahl 2025 werden zeigen, ob die Partei in der Lage ist, sich aus ihrer Krise zu befreien oder ob sie weiter abgleitet.Getty Images / Sean Gallup / Staff

2021 träumten die Grünen noch davon, Volkspartei zu werden. Nun droht ihnen der totale Absturz. Wie konnte es dazu kommen? Doch sind sie wirklich am Ende? Was nun zu erwarten ist und wie es um die Perspektiven der Partei steht, kommentiert Sozialforscher Andreas Herteux.

Die Grünen standen 2021 vor einem historischen Moment: Mit Umfragewerten von über 25 % und der Aussicht, eine Schlüsselrolle in der Bundesregierung zu übernehmen, schien der Traum, endlich Volkspartei zu werden, greifbar nah.

Bei den Europawahlen 2019, zwei Jahre zuvor, waren es bereits 20,5 % gewesen, und in allen folgenden Landtagswahlen zog man nicht nur in das jeweilige Parlament ein, sondern war in sieben von acht Fällen sogar an der Regierung beteiligt. Die Grünen waren ein fest etablierter Machtfaktor in Deutschland, und die Kanzlerschaft war damals nicht unrealistisch, nein, sogar greifbar. Es sollte der Beginn einer neuen Ära werden.

 

Ein Höhenflug auf der Welle postmaterieller Ideale wie Klimaschutz, offene Grenzen, Identitätspolitik, Post-Kolonialismus, einer sozial-ökologischen Transformation und globaler Gerechtigkeit, die seit den 2010ern, von den Universitäten überschwappend, den medialen, aber teilweise, und dies belegen viele Umfragen, auch wenn dies heute ein wenig negiert wird, eben auch den gesellschaftlichen Kurs bestimmten.

Die Zeit schien reif. Grün wählte man nicht mehr nur im postmateriellen Milieu (ca. 12 % der Bevölkerung), jener gut situierten Menschen, die es sich leisten können, über alltägliche Lebenssorgen hinauszublicken und sich höheren Idealen zu widmen, oder der relativ jungen neo-ökologischen Lebenswirklichkeit (ca. 8 % der Bevölkerung), die viel Wert auf Multikulturalismus, Vielfalt und politische Korrektheit legt, sondern endlich auch in Teilen der Mitte.

Zwar verlief die Bundestagswahl dann, trotz eines Rekordergebnisses von 14,8 %, enttäuschend, allerdings konnte man dies noch auf den missglückten Wahlkampf und die kontraproduktive Wahl der Kanzlerkandidatin schieben. Trotzdem waren die Grünen nun Regierungspartei.

Doch dann veränderte sich etwas. Erst langsam, dann immer schneller. Zunächst gab es weiterhin Erfolge, und bis Oktober 2022 konnten die Grünen in allen Landtagswahlen zulegen.

Ab Ende 2022 wurden die Auswirkungen der geplanten oder praktischen Umsetzung von postmateriellen Idealen allerdings immer sichtbarer und kritischer betrachtet. Tierwohlcent, Heizungsgesetz, Ablehnung bisheriger Energieformen, Verbrenner, Energiekosten, ein fehlgeschlagenes Demokratiefördergesetz, Versagen im Migrations- und Integrationsbereich – nicht alles davon hatten die Grünen zu verantworten, aber überall war der Abdruck des postmateriellen Stempels zu finden, den diese Partei wie eine Keule mit Elan zu schwingen weiß. Die darauffolgenden Urnengänge waren durchgehend durch Verluste geprägt.

Doch wie konnte es so weit kommen? Die Ursachen sind vielfältig. Einerseits hat die Partei den Anspruch auf eine pragmatische und zugleich idealistische Politik nicht einlösen können. Es gelang nicht, die postmateriellen Ideale in die Wirklichkeit zu transformieren. Gelegentlich waren diese Versuche, man denke hier nur an die feministische Außenpolitik, von Anfang an abstrus und zum Scheitern verurteilt; an anderer Stelle, es sei hier nur das Heizungsgesetz genannt, erwies sich die Gestaltung als lebensfern, sozial kalt und nicht durchführbar. Hinzu kam, dass im Zweifelsfall offensichtlich dem Ideal, manche würden sagen der Ideologie, der Vorrang vor dem Pragmatismus eingeräumt wurde; ein interessantes Beispiel wäre hier die Migrationspolitik.

Andererseits haben sich die gesellschaftlichen Prioritäten verschoben. Während die Grünen weiterhin auf postmaterielle Themen wie Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit setzten, rückten für viele Wähler materielle Sorgen wie die steigenden Lebenshaltungskosten, die eben genannte Migration und innere Sicherheit in den Vordergrund.

Das hätte nicht geschehen müssen, hätten sich die Grünen und damit auch die Ampelregierung um eine Balance bemüht und sich darin versucht, die verschiedenen Bedürfnisse der mannigfaltigen und zersplitterten Milieus in Deutschland auszugleichen. Doch das gelang ihnen ebenso wenig wie der Vorgängerregierung. Oder aber man wollte es schlicht nicht, weil entweder die eigenen postmateriellen Ideen als wichtiger eingestuft wurden als die marginalen Belange des restlichen Volkes, oder aber diese Bedürfnisse mit den Vorstellungen einer idealen Gesellschaft entgegenstanden.

War es mangelnde Kommunikation oder nur der Fehler, zu offen zu zeigen, was man wirklich will? Ehrlichkeit kann auch tödlich sein, und niemand kann den Grünen vorwerfen, nicht offen über die eigenen Ziele gesprochen zu haben. Oder lag es an Putin, der es schlicht wagte, den Traum von der sozial-ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft zu stören? Oder war es vielleicht doch am Ende die handwerklich oft schlechte Politik?

Es spielt keine Rolle, denn die Ampel hat die schon jahrelang bestehenden Milieukämpfe noch einmal angeheizt und damit ihren Beitrag zur Stärkung der Ränder geleistet.

Die Zeiten hätten eine kluge und reife Politik des konstruktiven Pragmatismus benötigt. Diese hätte auch durch Überzeugungen geprägt sein können; solange eine Balance gegeben wäre, hätte es nicht zum Scheitern kommen müssen.

Nun also der Absturz und die üblichen Personalrochaden. Der Blick darauf und auf die bevorstehende Bundestagswahl 2025 zeigt, dass die Grünen vor einer entscheidenden Weggabelung stehen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Partei erneut in den Bereich von 20 % oder mehr vordringen kann. Vielmehr scheint es realistisch, dass die Grünen auf ein Kernklientel von etwa 8-12 % zusammenschrumpfen, wobei auch dieses zunehmend kritisch reagiert, allerdings nicht, weil die Partei zu weit ging, sondern weil sie offenbar, auf Druck anderer Milieus, den Prozess verlangsamen oder teilweise verschieben will.

Nun, weder das postmaterielle noch das neo-ökologische Milieu gehört alleine den Grünen. Auch die Linkspartei, die SPD oder die Newcomer von Volt könnten hier mittelfristig punkten.

Für die Grünen wird es in den kommenden Monaten entscheidend sein, sich neu zu positionieren und verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Dazu müssen sie einen Spagat schaffen: Einerseits dürfen sie ihr Grundpotenzial nicht verkleinern, andererseits dürfen sie sich den Weg zurück in die Mitte nicht versperren. Es gilt, die Kernanliegen wie den Klimaschutz nicht aufzugeben, gleichzeitig aber auch die materiellen Sorgen der Bürger zu beachten. Nur so können sie verhindern, dass der Absturz in den Umfragen zu einem dauerhaften Verlust politischer Relevanz wird.

Die Frage bleibt, ob die Grünen diesen Kurswechsel rechtzeitig und glaubwürdig vollziehen können, ohne sich im Inneren zu zerreißen. Es wird daher Flügelkämpfe zwischen den „Realos“ und den „Postmateriellen“ geben.

 

Die kommenden Landtagswahlen und die Bundestagswahl 2025 werden zeigen, ob die Partei in der Lage ist, sich aus ihrer Krise zu befreien oder ob sie weiter abgleitet. Die aktuelle Lage spricht gegen einen großen Wahlerfolg, aber das endgültige Urteil ist noch nicht gefällt. Gewiss, der Bundestagseinzug erscheint nicht in Gefahr, aber der Traum von der Volkspartei dürfte für eine Dekade ausgeträumt sein.