Kommentar: Angela Merkel hinterlässt manches Rätsel

Die Ex-Kanzler hatte am Dienstagabend ihren ersten langen öffentlichen Auftritt: Angela Merkel stellte sich den Fragen eines Journalisten. Viele Antworten blieb sie schuldig. Und dennoch zeigte sich, warum es trotz ihres Wurstelns eine Sehnsucht nach ihr gibt.

Ex-Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Fragenabend mit dem Journalisten Alexander Osang im Berliner Ensemble (Bild: REUTERS/Annegret Hilse)
Ex-Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Fragenabend mit dem Journalisten Alexander Osang im Berliner Ensemble (Bild: REUTERS/Annegret Hilse)

Ein Kommentar von Jan Rübel

Sechs Monate lang hatte sie sich rar gemacht. War quasi abgetaucht, darunter fünf Wochen allein an der Ostsee. Während Angela Merkel sich daran zu gewöhnen hatte, dass nicht mehr die Schicksale der Republik ihren Schreibtisch zur Entscheidung passierten, ist die Welt reichlich durcheinandergeraten. Und nun also gestern das erste Mal, das man sie ausfragen konnte.

Seit Februar überfällt Russland seinen Nachbarn Ukraine. Merkel traf Wladimir Putin seit ihrer Wahl zur Kanzlerin im Jahr 2005 so oft wie kein anderes Regierungsoberhaupt. Sie redete mit ihm zahllose Male. Beide verbindet, dass sie gut Russisch spricht und er noch besser Deutsch. Beide sind in einer Diktatur aufgewachsen. Nur hat deren Zusammenbruch den einen traumatisiert und die andere euphorisiert. Hat Merkel daraus die richtigen Konsequenzen für ihre Politik gezogen?

Die Ex-Kanzlerin steht vor der Frage, ob die 16 Jahre ihrer Russlandpolitik einen selbst verschuldeten Scherbenhaufen bilden. Und was sagt sie?

"Diplomatie ist ja nicht, wenn sie nicht gelingt, deshalb falsch gewesen. Also ich sehe nicht, dass ich da jetzt sagen müsste: Das war falsch, und werde deshalb auch mich nicht entschuldigen." Dass die Diplomatie nicht gelang, ist höflich ausgedrückt. Auch wegen Merkel hat sich Deutschland in den vergangenen Jahren in eine verstärkte Abhängigkeit von russischem Öl sowie Gas begeben. Die Sozialdemokraten faselten von „Wandel durch Handel“, woran Merkel, wie sie gestern frei bekannte, nie geglaubt habe. Dennoch entschied sie sich für den Pipelinebau – und damit für den billigen Euro.

Zu abgeklärt

Damit wir günstig Energie beziehen, haben wir sehenden Auges das Regime in Moskau mit unserem Geld gefüttert. Merkel tat es.

Und zur Frage, inwieweit sie dazu beitragen konnte, eine Eskalation mit Russland zu verhindern, antwortete sie: "Ich habe es glücklicherweise ausreichend versucht. Es ist eine große Trauer, dass es nicht gelungen ist." Es sei so, "dass ich mir nicht vorwerfen muss, ich hab es zu wenig versucht."

All dies klingt schon recht abgeklärt. Der Angriff auf die Ukraine habe sie nicht überrascht. Und sicherlich wird Merkel viel „versucht“ haben. Doch die weiße Weste, in der sie sich präsentierte, passte nicht ganz.

Denn das Krisenmanagement der Kanzlerin war an ihre Grenzen gestoßen. Putin machte Schluss mit Wursteln. Er schuf Fakten. Merkel erklärte gestern nicht das Faktische, nämlich das Scheitern ihrer Russlandpolitik. Irrtümer hätte sie eingestehen können.

Aber vielleicht ist sie davon überzeugt, dass sie Putin stets richtig einschätzte. Das kann sein. Frappierend zum Beispiel, wie sie bestätigte, dass Putin sie bei einem Besuch im Jahr 2007 mit einer Labradorhündin einzuschüchtern versuchte. Nur: Wenn Merkel diesen Lügenverbrecher seit langem durchschaut hatte – warum dann diese nachgiebige Politik? Warum nicht frühere und härtere Sanktionen? Warum der Kotau bei Öl & Gas? Ihr Weg des geringsten Widerstands bleibt ein historischer Irrweg.

Man will ihr Gutes

Dennoch lag überm Abend der Ex-Kanzlerin im Berliner Ensemble, zusammen mit den Fragen des „Spiegel“-Autoren Alexander Osang, eine Sehnsucht. Menschlich, das war ganz klar, war diese Frau einem nahe. Eine schnörkellose Politikerin, eine sachlich orientierte Entscheiderin ohne Brimborium. Der Abend brachte in Erinnerung, dass man in den vergangenen 16 Jahren beim Gedanken, dass sie im Kanzleramt werkelte, keine Alpträume kriegte – und dies unabhängig von der politischen Meinung. Merkel, die ideologieferne, passte irgendwie dorthin. Gerade weil sie nicht glänzte, brachte sie Glanz in das Amt der Kanzlerin. Und vielleicht ist das auch ein Grund, weil Olaf Scholz ihr Nachfolger wurde; er ähnelt ihr am ehesten, mehr jedenfalls als Dampfplauderer Armin, Dreitagebart Christian, Weltenerklärer Robert oder die resolute Annalena. Mancher im Zuschauersaal hätte Merkel am Ende des Abends gern liebevoll gedrückt.

Nur sich richtig erklären – das tat sie vorerst nicht.

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