Kommentar: Bei den Grünen stellt sich die Kanzler-Frage

Annalena Baerbock und Robert Habeck haben die Grünen zu neuen Höhen geführt (Bild: dpa)
Annalena Baerbock und Robert Habeck haben die Grünen zu neuen Höhen geführt (Bild: dpa)

Der grüne Höhenflug bringt neue Gedanken auf. Fast wirkt schon die Kanzlerschaft in Reichweite. Doch kann die Öko-Partei das?

Ein Kommentar von Jan Rübel

Derzeit kuttern die Grünen durch die politische Mitte Deutschlands wie eine Partygesellschaft auf Butterfahrt: Von jedem nehmen sie was mit. Stimmen von SPD, CDU und FDP liegen preiswert in den Regalen, und bezahlt wird mit einer Währung, welche die härteste ist: Die Grünen genießen einen Vertrauensvorschuss, der anderen Parteien, mit Ausnahme der AfD, nicht mehr gewährt wird. Die Grünen sind Freibeuter der Mitte.

Vor wenigen Jahren noch wurden Visionäre einer schwarz-grünen Zusammenarbeit verspottet, heute gehört es für Unionsgranden zum guten Ton, die ehemals verlachten “Ökos” zu umgarnen. Grund ist zum einen die verwaisende politische Mitte, die Abnutzung der Volksparteien CDU, CSU und SPD in der Koalition.

Und klassisch grüne Themen erreichen immer mehr Herzen: Der trockene und heiße Sommer lässt selbst an jeglicher Natur Desinteressierte darüber sinnieren, ob das mit dem Klimawandel alles egal ist. Atomkraft erscheint gedanklich wie eine böse Kraft aus einem alten Märchen, Kohlekraftwerke gewinnen keinen Schönheitspreis mehr – und der Schutz unserer Wälder wie der Hambacher Forst wird zum Anliegen breiter Massen. Wenn sich schon so vieles um uns herum verändert, soll die Natur bleiben und nicht verschwinden. Wer früher in Oberbayern seit Menschengedanken CSU wählte, bestraft heute die Christsozialen für ihren Betonversiegelungswahn.

Und die Grünen haben eine Parteispitze, die jede Marketingberatung zum Strahlen brächte: Mit Annalena Baerbock und Robert Habeck stehen Darlings am Deck. Dies gibt den Grünen ein Momentum. Beide träumen von einer linksliberalen Mitte, suchen in allen Gesprächen die Augenhöhe, schauen weder herab noch lassen sie sich auf ihrer Fahrt die Butter von Brot nehmen. Sie strahlen eine nötige Distanz zum Politikbetrieb aus, also zu jenem, was Rechtspopulisten „Establishment“ nennen. Sie wirken, sicherlich auch aufgrund einer geschickten Inszenierung, unabhängig. Und sie sind jung.

Frontrunner werden wichtiger

Die Konkurrenz hat nichts Ähnliches zu bieten. Die CDU sucht noch nach sich selbst, die SPD ebenfalls – und Christian Lindner bemüht sich um Aufnahme in die Casting-Show “Mach den Habeck”, ist aber bisher nicht reingekommen, so verzweifelt cool tritt er auf.

Bei den Umfragen segeln die Grünen entlang der 20 Prozent, das macht sie zu potenziellen Regierungspartnern auf Bundesebene. Oder ist mehr drin? Was, wenn die Grünen das Kanzleramt ins Visier nehmen?

Eine Kanzlerkandidatur der kleineren Parteien wirkt auf den ersten Blick vermessen. Als Guido Westerwelle im Jahr 2002 erster Kanzlerkandidat der FDP wurde, brachte das mehr Spott als Nutzen. Doch die Zeitläufe haben die Großen verkleinert, außerdem hat eine Personalisierung der Politikwahrnehmung eingesetzt – die Frontrunner stehen für die Parteien schlechthin, ob links oder rechts. Eine Kanzlerkandidatur bei den Gründen wird also denkbar.

Ausgemacht ist es nicht, dass Habeck das Rennen für sich entscheidet, nur weil er schon länger ein innerparteilicher Star ist. Baerbock hat nach ihrem Überraschungssieg bei den Wahlen zur Parteisprecherin gewaltig aufgeholt. Beide stehen gut da, gerade weil sie ein Duo bilden. Beide haben dokumentiert, dass sie Teamgeist haben und walten lassen; nicht umsonst teilen sie sich ein Büro.

Doch der aktuelle Höhenflug der Grünen könnte im Jahr 2019 einige Bruchlandungen hinlegen. In einigen östlichen Bundesländern stehen Landtagswahlen an, und dort steht es um die Grünen historisch gesehen schlecht. Eine starke Basis, auch als Partei, haben sie dort nicht aufbauen können.
Und zwar werden Umweltthemen an Dringlichkeit eher noch zunehmen – aber bei den sich verschärfenden Sozialfragen sind die Grünen bisher zu bürgerlich orientiert und zu wenig an prekär Beschäftigten und geringer Verdienenden interessiert. Die Sozialfrage ist die offene Flanke der Grünen. Beantworten sie diese überzeugend, ist auch das Kanzleramt in Reichweite.

Je größer, desto unschärfer

Auch würden sich die Grünen auf den Weg zur größten Partei in Deutschland arg häuten. Bisher standen sie auch für unangenehme Themen und Forderungen, deren Mehrheitsfähigkeit sie nicht unbedingt im Blick hatten. Das war auch immer ein Vorteil der Grünen als korrigierende und mahnende Bewegung. Derzeit stehen die Grünen stark da, weil die anderen schwach sind. Dass sich dieser Trend fortsetzt, ist nicht ausgeschlossen. Unheimlich realistisch aber ist er auch nicht.

Ob Baerbock Kanzlerin oder Habeck Kanzler könnten, steht außer Frage. Sie zeigte sich bisher themenstark, eingelesen und genau in ihren Worten. Er kann auf eine mehrjährige Regierungserfahrung in Schleswig-Holstein verweisen, macht sich seit langem Gedanken um eindringliche und dennoch nicht verrohende Rede. Beide kommen an, können Bierzelte füllen. Und wollen es auch. Wenn ein Emmanuel Macron das Präsidentenamt Frankreichs ausfüllen kann, vermögen Baerbock und Habeck dies mit dem Kanzleramt auch.