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Kommentar: „Bild“ darf sich wieder ordentlich aufregen

Eine goldfarbene Justitia-Figur steht im Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg. (Symbolbild: Britta Pedersen/ZB/dpa)
Eine goldfarbene Justitia-Figur steht im Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg. (Symbolbild: Britta Pedersen/ZB/dpa)

Weil ein junger Mann nicht ins Gefängnis kommt, gibt sich das Boulevardblatt ganz empört. Warum eigentlich – weil es ein Geflohener ist?

Ein Kommentar von Jan Rübel

„Messerstecher“ ist eines jener Worte, die immer gehen. Es klingt schaurig, hinterrücks. Und wer als solcher durchgeht, der gehört doch ins Gefängnis, nicht wahr?

Die Wahrheit indes ist zuweilen nicht einfach zu erfassen. Manchmal ist es richtiggehend kompliziert. Und dann ist einer, der sechsmal auf einen Menschen eingestochen hat, auf freiem Fuß, weil Richter entschieden: Es war Notwehr. Für Opfer und Hinterbliebene mag dies bitter sein. Aber es ist Recht.

Und meistens wird über solche Dramen kaum berichtet, denn Messerstechereien sind zwar kein deutscher Alltag, aber auch keine Rarität. Eine tragische ereignete sich im nordrheinwestfälischen Ochtrup. Und die „Bild“-Zeitung bringt diesen Fall groß heraus. Warum eigentlich, wenn die Angelegenheit schwierig zu durchschauen ist?

Was ist passiert?

Es geht um zwei Männer. Sie streiten sich wegen einer Frau. Der eine bricht dem anderen den Unterkiefer, bestellt ihn später in den Stadtpark und schlägt dort gleich zu. Der andere haut dann mit einer Flasche zu, zückt schließlich ein Küchenmesser – er ist kleiner und dem ersten unterlegen. Sechsmal sticht er zu. Bleibt am Tatort, versucht nach eigenen Angaben die Wunden zu stillen und lässt sich festnehmen. Sein Opfer stirbt.

Ich bin kein Jurist, aber solch eine Faktenlage ist schwer zu durchschauen. Wir waren ja nicht dabei. Wenn Richter dann urteilen, ist auch Vertrauen in ihre Unabhängigkeit und ihre Kompetenz vonnöten, die weder ich noch die „Bild“-Zeitung besitzen. Die aber holt die Trommel raus, nennt den Mann mit dem Küchenmesser den „Messerstecher“. Und dient sich der verzweifelten Mutter des Opfers als Sprachrohr an, ganz scheinheilig. Dass die Frau es nicht verstehen kann, dass jener Mann, der für den Tod ihres Sohnes verantwortlich ist, wegen Notwehr freigesprochen wird, ist nachvollziehbar. Aber es bleibt trotzdem Recht.

Rund um Ochtrup regten sich rechte Kreise, die mitpolterten. Denn nun geht es um ein offenbar wichtiges Detail: Der „Messerstecher“ ist ein Geflohener aus Afghanistan. Und gleich heißt es, die Gesetze seien nur für Deutsche, und „die da“ dürften tun und lassen, was sie wollten.

Das Messen mit zweierlei Maß

Anders herum wird ein Schuh draus. Wäre der „Messerstecher“ ein Ochtruper fünfter Generation, würde man kaum darüber berichten. Dann wäre der Fall kompliziert. Nun aber ist er glasklar. Volkes Seele, oder jene, die sich dafür halten, meint: Also, ein Flüchtling, der darf sich erstmal gar nichts erlauben. Und Notwehr, warum sollte die für den gelten?

Mit ihren gespielt gehobenen Augenbrauen betreibt „Bild“ die Aufregungsmaschinerie. Der Zeitung geht es nicht um Schwierigkeiten der Strafrechtsprechung, sondern um Stimmungsmache. Kaum zu glauben, dass das Blatt einmal Aufkleber mit der Aufschrift „Refugees Welcome“ verteilte. Oder freute man sich über die Neuankömmlinge, weil sie herrlichen Stoff für miese Kampagnen hergeben?

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