Kommentar: Chaos-Tage in London – die "Britannia" wird zur "Titanic"

Theresa May zeigt sich nach der gewonnenen Misstrauensabstimmung entschlossen, ihren Brexit-Kurs fortzuführen (Bild: Getty Images)
Theresa May zeigt sich nach der gewonnenen Misstrauensabstimmung entschlossen, ihren Brexit-Kurs fortzuführen (Bild: Getty Images)

Schlag auf Schlag ging es diese Woche in Großbritannien. Zuerst stieß Premierministerin Theresa May sowohl Opposition als auch Teile der eigenen Gefolgschaft in der Conservative Party vor den Kopf, als sie die mit Spannung erwartete, groß angekündigte Unterhaus-Abstimmung über das Brexit-Abkommen mit der EU kurzerhand verschieben ließ.

Doch das taktische Manöver, das eine absehbare Niederlage vermeiden sollte, führte beinahe zur Palastrevolution – in den eigenen Reihen. Vor allem die ultrakonservativen Kräfte der Tories um deren Anführer Jacob Rees-Mogg probten den Aufstand und erzwangen eine innerfraktionelle Vertrauensabstimmung über die Premierministerin.

Bereits vor zwei Wochen hatten sie eine solche Abstimmung gefordert, doch damals kam das notwendige Quorum von 48 Stimmen nicht zusammen. Diesmal gelang dies mühelos.

Vom Regen in die Traufe

So kam May vom Regen in die Traufe: Die Klatsche im Unterhaus konnte sie vermeiden, doch dafür sah sie sich am Mittwoch jäh mit einem möglichen Misstrauensvotum der eigenen Partei konfrontiert. Noch am Abend war es soweit: Es kam zum Schwur.

Glimpflich, äußerst glimpflich konnte May die Zitterpartie für sich verbuchen – mit 117 von 200 Stimmen sprach sich eine Mehrheit der Fraktion für die Chefin und ihren Brexit-Kurs aus. Umgekehrt heißt das Ergebnis, dass über zwei Fünftel aller Tory-Abgeordneten von ihrer Premierministerin abgerückt sind. Stabiler Rückhalt sieht anders aus.

Das Lager der innerparteilichen May-Gegner übertraf zahlenmäßig damit die bloßen Kritiker ihrer Brexit-Verhandlungsergebnisse, denen maximal ein Drittel der konservativen Abgeordneten zugerechnet werden. Die gestrige Abstimmung gestaltete sich folglich als Pyrrhussieg Mays.

Wenn kein Lager zufrieden ist

So knapp ihre Mehrheit in der eigenen Truppe auch ist – im Unterhaus steht May auf noch verlorenerem Posten. Zum einen sind da die Brexit-Gegner, die in ganz verschiedenen politischen Lagern beheimatet sind und aus unterschiedlichen Motiven heraus die ausgehandelte Vertragsfassung rundheraus ablehnen.

Vor allem sind hier die Liberal Democrats zu nennen – die britischen Liberalen –, neuerdings jedoch auch wieder die sozialdemokratische Labour-Partei, und natürlich all jene Kräfte, die sich dem doch beträchtlichen Teil des britischen Wahlvolkes verpflichtet fühlen, der immer gegen den britischen EU-Ausstieg war.

Mays Parteifreund Jacob Rees-Mogg zählt zu den Wortführern der Brexit-Hardliner (Bild: Reuters)
Mays Parteifreund Jacob Rees-Mogg zählt zu den Wortführern der Brexit-Hardliner (Bild: Reuters)

Doch es sind vor allem die Brexit-Hardliner, darunter eben viele Parteifreunde Mays, für die der Vertragsentwurf insgesamt einen Verrat am Brexit-Votum darstellt. Für letztere heißt Brexit: Exit, nicht eine Fortsetzung der EU mit anderen Mitteln, eine Art “Ausstieg light”, sondern bedingungslose Loslösung von Brüssel.

Premierministerin zwischen allen Stühlen

Die von May in zähen bilateralen Gesprächen ausgehandelten Punkte zur Zollunion, die Übergangsbestimmungen mit der EU hatten den Zweck, die krassen Schärfen eines konsequenten Ausstiegs abzumildern, damit das Land weniger hart als erwartet auf dem Boden der Tatsachen aufschlägt, wenn der eigentliche Brexit greift.

Doch selbst diese Kompromisslösungen, durchaus im britischen Eigeninteresse und keinesfalls bloße Zugeständnisse an Europa, sind den Hardlinern ein Dorn im Auge.

Nun sitzt die Premierministerin zwischen allen Stühlen: Die einen denken, dass Mays Verhandlungsergebnisse einen Verrat am Votum bedeuten und den Volkswillen ignorieren. Den anderen passt das Votum als solches nicht, denn jeder britische Schritt weg von Europa ist ihnen ein Dorn im Auge.

Spott und Kopfschütteln in der Presse

Eine Folge des Dilemmas: Die Insel lacht sich kaputt, Boulevard-Medien – wie “Sun” und “Daily Mirror” – kippen Hohn und Spott über May aus. Sie sei feige, heißt es aus dieser Richtung, und sie fliehe vor dem Votum. Aber auch die seriöse Presse, etwa die Londoner “Times” und der “Guardian”, kann über die offensichtliche Hilflosigkeit der konservativen Ministerpräsidentin den Kopf schütteln.

Doch es ist nicht nur ein blamables Parlamentsvotum, vor dem May flüchtet. Sie läuft auch vor der Tatsache davon, dass sich das Lager der Brexit-Gegner seit längerem in Meinungsumfragen wieder in der Mehrheit sieht – was immer wieder den Ruf nach einer Wiederholung der Abstimmung provoziert hatte.

Schlagzeile aus dem Sommer 2017: Die britischen Zeitungen kommentieren Mays Brexit-Kurs seit jeher bissig. (Bild: Getty Images)
Schlagzeile aus dem Sommer 2017: Die britischen Zeitungen kommentieren Mays Brexit-Kurs seit jeher bissig. (Bild: Getty Images)

Tatsächlich lässt das wahrnehmbare öffentliche Meinungsbild der Briten darauf schließen, dass sie im Fall eines erneuten Votums den Brexit ablehnen würden. Denn allzu groß war die Lügenkampagne der Brexit-Befürworter, zu offensichtlich die manipulative Einmischung russischer Bots und die Kaskaden von Fake-News in den Sozialen Medien.

Ein Kompromiss wäre nötig – aber welcher?

Eigentlich wäre May nun in der Pflicht, einen tragfähigen Kompromiss zu finden, der Kritiker, entschiedene Gegner und Anhänger des Brexit zumindest auf einen pragmatischen gemeinsamen Nenner eint.

Ein möglicher Schlüssel hierzu wäre, dem widerspenstigen Unterhaus zu vermitteln, dass auch nach einem Brexit eine gemeinsame Handelspolitik mit der EU im beiderseitigen Interesse von London und Brüssel liegt, und dass auch bei reeller politischer Loslösung wirtschaftliche Gemeinsamkeiten unbedingt fortbestehen müssen.

Doch ob der Premierministerin Nachbesserungen oder inhaltliche Richtungswechsel angesichts der aufgeheizten Stimmung überhaupt noch gelingen können, ja ob sie solche überhaupt will, ist fraglich. Und auch die EU verliert zunehmend die Geduld; in Brüssel will man sich nicht zum Spielball einer britischen Hü-und-Hott-Politik machen lassen.

Auf Kollisionskurs

Theresa May gab sich gestern kämpferisch: Stur will sie, jetzt erst recht, ihren Entwurf durchboxen. Manch einer gewinnt den Eindruck, sie geht bewusst auf Konfrontationskurs. Die “Britannia” scheint zur “Titanic” geworden zu sein, und trotzig hält die Kapitänin Kurs, eher bereit, nach der Kollision mit dem herantreibenden Eisberg von Bord zu fliehen, als jetzt noch das Ruder herumzureißen.

Viele Briten gehen nach wie vor gegen den Brexit auf die Straße (Bild: Reuters)
Viele Briten gehen nach wie vor gegen den Brexit auf die Straße (Bild: Reuters)

Viel Zeit für Änderungen bliebe ohnehin nicht mehr: Die gestrige Vertrauensabstimmung verschaffte May zwar etwas Luft, doch spätestens Ende Januar muss das Parlament über den Vertragstext abstimmen; das wäre dann keine acht Wochen vor der Brexit-Deadline.

Und je näher der beschlossene Ausstiegstermin im März 2019 rückt, desto mehr dämmert es vielen Briten: Das Brexit-Votum war eine äußerst dumme Entscheidung, die nicht nur den politischen, sondern auch den sozialen Frieden der stolzen britischen Nation gefährdet.

Dieser Mann hat sein normales Leben aufgegeben, um gegen den Brexit zu demonstrieren