Kommentar: Corona wird heute abgeschafft – nur nicht für Schwurbler und Long-Covidler
Ab heute gelten viele Regeln zum Schutz vor Corona nicht mehr. Damit geht die Politik mit der Zeit. Doch nicht alle schreiten mit. Und andere können nicht.
Ein Kommentar von Jan Rübel
Keine Maskenpflicht mehr für Beschäftigte im Gesundheitswesen, keine Maskenpflicht mehr für Bewohner in Pflegeheimen – die Einschränkungen zum Schutz vor Corona fallen wie die Blätter im Herbst, der sich anschickt, ein Frühling zu werden.
Nun ist auch langsam gut, möchte man meinen. Wenn man gesundheitlich gut durchgekommen ist und merkt, dass einem persönlich die Maske vor Mund und Nase schwerer wiegt als eine konkrete Gefahr für Leib und Leben, weil man sie nicht hat.
Die Politik passt sich damit der epidemischen Lage an. Sie anerkennt, dass das Virus seinen flächendeckenden Schrecken verloren hat. Das Leben findet für viele mittlerweile ohne das Virus im Alltag statt.
Nicht für Schwurbler
Zeit für eine kleine Bilanz. Wurde die befürchtete Corona-Diktatur eingeführt? Nein. Wurde eine Gefahr durch das Virus heraufbeschworen, nur um bessere Kontrolle oder eine Aushebelung der Demokratie zu ermöglichen? Falls ja, scheint es nicht gut geklappt zu haben. Und an den Protesten gegen die Sicherheitsmaßnahmen wird es nicht gelegen haben. Sie sind, wie vorhergesagt, als Fußnote in die Geschichte eingegangen, als Versammlungen von Verirrten oder bewusst sich einen anderen Staat Wünschenden (Hitlerfans und andere Populisten). Alles ist geschehen, wie von den 99 Prozent aller Wissenschaftler gemutmaßt. Und nichts dessen ist eingetreten, wovor gewarnt wurde; dies erwies sich als Schwurbelei und wird eine Aktualisierung im Wörterbuch finden.
Nicht für Risikoträger
Doch der Fakt, dass Corona für Viele kein Thema mehr ist, heißt nicht: für alle. Denn Menschen mit gewissen Vorerkrankungen leben immer noch mit dem Risiko, bei einer Corona-Infektion schwer bis tödlich zu erkranken. Sie können die Maskenabmachmanöver nicht mitmachen, sie haben ja nur ein Leben. Und dieses ist kein Spiel. Die fragen sich schon, wie weit die Solidarität einer Gesellschaft eigentlich reicht. Sie hat eben menschliche Beine. Und die sind bekanntlich kurz. Eine Lösung dafür kenne ich nicht. Vielleicht mehr Bewusstsein, mehr Achtsamkeit. Die Maske nicht vergessen, sondern immer bei sich führen – für den Fall. Denn wir wissen ja: Schaden tut sie nicht. Anderes könnte schaden.
Nicht für Long-Covidler
Und dann gibt es jene, die es erwischt hat. Quasi wir alle hatten ja Corona, die meisten von uns steckten es weg wie eine Erkältung oder eine Grippe oder eine schwere Grippe – aber irgendwann war es vorbei. Für manche indes nicht. Bei ihnen setzte sich das Virus fest, weil es eben doch tückisch und gefährlich ist – ganz ungeschwurbelt. Und die leiden heute still. Mir kommt es vor, als hätten wir als Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft ihr Gebrechen als Kollateralschaden eingespeist. Als seien sie abzulegen als tragische Einzelfälle, die nicht zu Schlussfolgerungen taugen. Sie erfahren gerade die besonders kurzen Beine der Solidarität, und was ich in den Sozialen Medien von Betroffenen lese, wie sie alleingelassen sind und missverstanden werden, lässt in mir die Ahnung einer kalten Wut aufkommen.
Eigentlich sollten sie viel mehr Aufmerksamkeit erhalten, eine bessere medizinische Behandlung, eine achtsame Begegnung, mehr allgemeines Knowhow – sie sind von dem betroffen, das jeden von uns hätte befallen können, nur hatten sie in dieser Negativlotterie eben Pech. Bloß: Unsere Verfassung ist nicht auf Shit Happens aufgebaut, oder? Es sei denn, wir wollen sein wie die Leugner und Schwurbler, die zu Beginn der Pandemie von einem normalen Grippevirus faselten, von natürlicher Auslese. Dass Corona abgeschafft sei, wie im Titel geschrieben, stimmt eben doch nicht.