Kommentar - Deutschland verunglimpft Frührentner, aber ermutigt Junge zum Bummeln nach der Schule
Rente mit 63 abschaffen, stattdessen massiv höhere Abschläge für Frührentner: Im Kampf gegen den Fachkräftemangel erklärt Deutschland Senioren zum Sündenbock. Dadurch übersieht das Land, wie es junge Menschen zum Bummeln ermutigt.
Beim Bürgerdialog in Potsdam verdeutlicht Christian Lindner am vergangenen Montag mit zwei Sätzen das Grundproblem in der Debatte um den Fachkräftemangel. „Die Lebensarbeitszeit muss steigen“, sagt der Finanzminister den Anwesenden. „Wir müssen in Richtung von 67 Jahren als reales Renteneintrittsalter kommen.“
Wie Lindner verknüpft eine ganze Heerschar Politiker längere Arbeitszeit und spätere Rente, als besitze Deutschland keine andere Stellschraube. Die besitzt es aber.
Für die Arbeitszeit gilt, was auch für ein Seil gilt: Verlängern geht an beiden Seiten. Die Politik tut, als bliebe der Arbeitsanfang für die Lebensarbeitszeit bedeutungslos.
Wieso, zeigt der jüngste Vorschlag des Wirtschaftsweisen Martin Werding .
Deutschland signalisiert: Später mit dem Arbeiten anfangen lohnt sich
Werding will Frührentnern die Bezüge für jedes Jahr vorzeitigen Ruhestand um sechs Prozent kürzen, statt wie bislang um 3,6 Prozent. Die Ausnahme für Menschen, die 45 Jahre gearbeitet haben und derzeit abschlagsfrei in Rente gehen dürfen, will er streichen.
Die Folgen verdeutlicht ein Beispiel:
Wer nach 45 Arbeitszeiten zwei Jahre früher als das Renteneintrittsalter in den Ruhestand geht, verliert nach Werdings Vorschlag dauerhaft zwölf Prozent seiner Rente.
Hat dieser Angestellte immer exakt den Durchschnittslohn verdient, verliert er rund fünfeinhalb seiner 45 Rentenpunkte.
Dieser Angestellte bekommt damit die gleichen Bezüge wie ein Klassenkamerad, der fünfeinhalb Jahre später mit dem Arbeiten anfing, aber bis zum regulären Renteneintritt durcharbeitete und ebenfalls immer Durchschnitt verdiente.
Obwohl er das gleiche leistete, bekommt dieser Rentner deutlich weniger Geld als sein Klassenkamerad, auch auf die Lebenszeit gerechnet. Das ist unverhältnismäßig.
Klar: Der Frührentner bezieht seine Rente in diesem Beispiel zwei Jahre länger als sein Klassenkamerad. Der derzeitige Abschlag von 3,6 Prozent pro Jahr Frührente gleicht das aber gemessen an der durchschnittlichen Lebenserwartung recht genau aus.
Den Abschlag auch nach 45 Beitragsjahren anwenden? Okay. Ihn um einige Nachkommastellen anheben? Kann Sinn machen. Aber ihn auf sechs Prozent katapultieren? Das benachteiligt Frührentner gegenüber Späteinsteigern.
Die Botschaft dieses Ansatzes ließe sich so zusammenfassen: Wer in der Jugend nicht ein paar Jahre abgammelt, ist selber schuld. Im Alter muss er dafür länger arbeiten. Aber wer weiß, ob er überhaupt so alt wird. Ein fachkräftedarbendes Land könnte kein fataleres Signal vermitteln.
Besonders, weil die durchschnittliche Lebensarbeitszeit von Männern in Deutschland laut Eurostat seit 2010 um zwei Jahre anstieg. Für Frauen waren es sogar drei Jahre. Die Entwicklung geht also in die von Lindner geforderte Richtung zur längeren Arbeitszeit. Die Politik darf den Trend nur nicht sabotieren. Derzeit tut sie das, weil sie Späteinsteiger begünstigt.
Machen wir so weiter, haben wir die gleiche Anzahl an Arbeitskräften, aber mehr Altersarmut
So dringend die Politik langjährigen Angestellten einige Monate mehr Arbeitszeit aufbrummen will, so leichtfertig verschiebt sie den Einstieg Jüngerer um Jahre: plant ein verpflichtendes Soziales Jahr, 13-jähriges Abi, keinerlei Druck zum frühen Einstieg. Ein Land, das dringend Angestellte braucht, schickt junge Menschen politisch gewollt später ins Arbeitsleben (Abitur) oder diskutiert Maßnahmen, als blieben sie für die Lebensarbeitszeit folgenlos (verpflichtendes Soziales Jahr).
Oft ohne Vorteile. Natürlich fehlen dem Land Pflegekräfte. Deswegen aber auch junge Menschen, die sowieso nie im Sozialen arbeiten wollen, zu einem Sozialen Jahr zu zwingen, ignoriert Nutzen und Aufwand. Einige Wochen Pflichtpraktikum über alle Oberstufenjahre verteilt gewähren den gleichen Einblick.
Derzeit baut Deutschland einen Widerspruch auf: Senioren sollen länger arbeiten, junge Menschen Ehrenrunden drehen. Am Ende bleiben dem Land gleich viele Arbeitskräfte, aber mehr Senioren müssen buckeln oder an Altersarmut leiden. Schlechter Tausch.
Zumal bei den Senioren ohnehin wenig zu holen ist.
Nur weil die Rente mit 63 ein Problem ist, ist sie weder das einzige noch das größte Problem
Seien wir ehrlich: Die sogenannte Rente mit 63 ist keine Rente mit 63. Sie ist ein Wahlgeschenk, das vor allem die Rentner beschenkte, die im Jahr ihres Erlassens in Rente gingen. Für alle anderen macht sie kaum einen Unterschied.
Das Mindestalter für den abschlagsfreien Renteneintritt nach 45 Jahren Arbeitszeit steigt ständig. Schon 1964 Geborene müssen mindestens 65 Jahre alt sein, bevor sie sich mit vollen Bezügen zur Ruhe setzen dürfen. Die sogenannte Rente mit 63 steht dem von Lindner geforderten realen Eintrittsalter von 67 also kaum im Weg.
Zumal sie ohnehin nur Ausnahmefälle trifft: Wer mit 65 Jahren 45 Beitragsjahre gesammelt hat, hat mit spätestens 20 Jahren angefangen einzuzahlen. Studenten schaffen das nicht, selbst Azubis mit Abitur oft nicht. Einfache Arbeiter können es sich bereits jetzt nicht leisten, früher auf Gehalt zu verzichten und in Rente zu gehen - selbst ohne Abschläge. Es bleibt ein kleiner Kreis aufgestiegener Fachkräfte, der von der Maßnahme profitiert. Dem Rest Deutschlands macht sie falsche Hoffnungen.
Kein Wunder also, dass kein Ökonom die Rente mit 63 mag, sie aber unter den Bürgern so hohes Ansehen genießt. Hauptsache, man könnte, wenn man es sich leisten könnte.
Die Abschaffung der Rente mit 63 wäre, was bereits ihre Einführung war: ein Wahlgeschenk. Weil sich das ganze Land reinhängt und trotzdem Fachkräfte fehlen, schenkt die Politik Wählern einen Sündenbock: Rentner mit 63 seien schuld, weil sie lieber auf der faulen Haut legen, als ihren Beitrag zu leisten. Stimmt nicht, befriedet aber überarbeitete Gemüter.
Ob Scholz und Lindner sie beibehalten oder abschaffen, bleibt also mehr eine politische als eine finanzielle Entscheidung. Am Fachkräftemangel ändert es wenig. Wer eines der dringendsten Probleme Deutschlands mit Scheinlösungen bekämpft, verewigt es.
Derzeit nimmt Deutschland alle Frührentner in Sippenhaft
Ganz schlimm wird es, wenn Deutschland aus Unverständnis über die abschlagsfreie Rente mit 63 alle Frührentner in Sippenhaft nimmt. Große Teile ihres Arbeitslebens aus der Rentenkasse zu streichen, weil sie einen kleinen Teil ihres Arbeitslebens früher in Rente gehen, bleibt unfair.
Gerechter wäre ein Modell, dass die Lebensarbeitszeit insgesamt bedenkt, inklusive Studium und Ausbildung. 45 Jahre in Beruf, Ausbildung oder Kindererziehung ergeben die normale Rente. 50 Jahre ergeben etwas mehr, 40 Jahre etwas weniger.
Mit diesem Modell macht es keinen Unterschied, ob ein Mensch nach der Schule die Welt bereist oder im Alter viel mit seinen Enkeln spielt. Gleiche Arbeitszeit, gleiches Ergebnis. Gleicher Anreiz für alle, mehr zu arbeiten.
Hauptsache, wir schlagen nicht länger auf Frührentner ein, als seien sie die Alleinschuldigen. Diese Kuh ist gemolken. Schauen wir uns nach anderen Kühen um.