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Kommentar: Die Mauer fiel, neue Grenzen wurden gezogen

Abbrucharbeiten an der Berliner Mauer (Bild: Thierry Orban/Sygma via Getty Images)
Abbrucharbeiten an der Berliner Mauer (Bild: Thierry Orban/Sygma via Getty Images)

Was fühle ich, wenn der Mauerfall sich jährt? Schwierige Frage. Jedes Jahr die gleiche Tirade, zur runden Jährung gleich extra pompös. Das Zelebrieren des Fallens der Mauer wird wahrscheinlich immer Teil von Deutschland bleiben. Jedes mal denke ich jedoch: Wir feiern eigentlich die erfolgreiche Vertuschung.

In der DDR haben nicht nur deutsche Ostdeutsche gewohnt, sondern auch Deutsche mit Migrationshintergund. In der DDR lebten damals 94.000 “Vertragsarbeiter”, die meisten kamen aus Vietnam. Für sie hieß der Mauerfall teils eine unvermeidbare Abschiebung. Wiedervereinigt hieß nämlich auch: Einigung auf nationalistische Ideologien ist wieder en vogue.

Nun schien auch für viele, insbesondere türkische, Gastarbeiter ein Neustart gekommen. Doch dann kam Hoyerswerda. Geflüchteteneinrichtungen sowie Geschäfte von Migranten wurden von Nazis aufgesucht, blockiert, belagert. Angriffe auf Vertragsarbeiter- und Geflüchtetenwohnheime erschütterten die neue “Idylle” im geeinten Deutschland. Es folgte eine Serie von teilweise tödlichen rassistischen Angriffen, im Osten wie im Westen. Den so lange zurückgehaltenen Nazigefühlen konnte endlich wieder Platz gegeben werden. Und bis heute werden Gefühle der Vernachlässigung populistisch gegen eine angebliche “Bedrohung” seitens der Immigrierten ausgespielt. Wo? In Sachsen. Dort, wo jetzt ein Viertel offen rechts wählt. Die Mauern im Kopf hat niemand eingerissen, und in all der pseudo-freudigen Idylle, die insbesondere die Politik inszeniert, bekommt man doch 33er Gefühle.

Wie soll man sich freuen?

Wie also soll man sich über eine Wiedervereinigung freuen, wenn stattdessen neue Grenzen gezogen worden sind? Wie soll man den Osten verstehen, wenn große Teile in ihm Meinungsfreiheit mit Ausgrenzung und Rassismus gleichsetzen? Christian Bangel sagt in der “Zeit”, man solle eine gelenkte Integration von migrantischen Personen im Osten als Zusammenführungsmaßnahme starten. Ich verstehe seinen Wunsch nach utopischer Integration und Vereinigung, denn es gab ja de facto nie eine. Aber Nein. Die Entnazifizierung von Deutschen ist bestimmt nicht die Aufgabe von Marginalisierten aus kolonialisierten, exotisierten oder ausgebeuteten Ländern. Soviel Liebe kann man einer Demokratie, die einen Artikel 1 des Grundgesetz vergessen lässt, nicht geben, so viel Gefahr kann sich keiner aussetzen, der nicht als deutsch gelesen wird.

Und wie bereits erwähnt, es gab nie eine richtige Wiedervereinigung. Wo ist Ost- mit Westdeutschland gleichgestellt, wenn nichtmal Deutsche im Westen mit und ohne Migrationshintergund gleichwertig waren? Nirgends. Nicht in Vorständen, nicht in der Berichterstattung, einfach nirgends. Es gibt Studien, die eine massive Auswanderung von Frauen dokumentieren wegen der Stagnation im Osten, und die darauffolgende Radikalisierung der dort gebliebenen Männer. Die Wirtschaft liegt brach, keine Industrie im Osten. Noch viel gravierender: Die Treuhandanstalt, die massiv die Wirtschaftskriminalität steigerte. Wozu dies führte? Zum Aufstieg einer rassistischen Partei, die die Enttäuschung von Nichtwählern mobilisiert, weil sie wissen: Die Dämme brechen so leicht, wenn man nur daran erinnert. Der Westen und seine Parteien wollten so schnell wieder vereinen, dass man, anstatt an die gemeinsame Vergangenheit zu erinnern, diese schlicht vertuscht hat. Das verringert heute nicht nur Wählerstimmen, sondern auch die Sicherheit von Marginalisierten.

Deutschland wurde nie richtig entnazifiziert. Das Signal, “jegliche Art von Antisemitismus oder Rassismus wird hart bestraft” hat es nie gegeben. Nein, die, die darauf aufmerksam machten, die bekamen die metaphorischen Schellen. Die einzige Schelle, die je einen Altnazi erreichte, war die für Kiesinger, der als früheres NSDAP-Mitglied im Nachtrag mit der Ernennung zum Kanzler gesegnet wurde. Beate Klarsfeld wurde für die Ohrfeige nicht gefeiert. Man könne den Deutschen doch nach so einer Geschichte nicht vorwerfen, noch nationalsozialistisch zu denken, denn: Niemand hat etwas gewusst, und tief in uns wissen wir doch alle, dass wir gleich sind. Oder?

Die Lücken der Erinnerungskultur

Dass sie im Osten besonders laut “Heil” geschrien haben, wussten alle. Aber niemand wollte dieses Kapitel nochmal aufschlagen. Um Gottes Willen, der Deutsche ein Nazi, nach 45? Undenkbar. Vertuschen ist da die altbewährte Stärke. Vielleicht wollte Horst Seehofer an solche Tage zurück denken, als sein Ministerium vergaß, im Etat die Kosten für die Feier der Wiedervereinigung einzutragen. Aber Nein, die Parade-Show eines geeinten Deutschland lässt sich der Heimatminister nicht nehmen. Denn schließlich lässt sich so stets sagen: Wider dem (gewollten) Vergessen. Vergessen werden vor allem: Migranten. Jüdische Personen. Die wischt man mit einem “Es ist ein Angriff gegen uns alle” ganz schnell weg, denn Deutschland kann ja schließlich nicht mehr rassistisch sein.

Bemerkenswert ist auch, wie wenig Platz die Reichspogromnacht im ganzen Erinnerungstheater erhält, die ebenfalls am 09.11., jedoch im Jahre 1938 stattfand. Die jedoch stets in den Schatten fällt durch dieses “Nationalsozialismus haben wir hinter uns”. Ein saloppes “Nie wieder” und schwupps ist es, als wäre es nie wirklich passiert. Abspeisen von Erinnerungskultur ist das, oder wie Max Czollek es nannte: Erfolgreiches Gedächtnistheater. Hauptsache alle sagen eifrig “Ja es WAR so schlimm, gut das wir uns alle einig sind über die Grausamkeit, aber jetzt ist auch gut, gell?”

Natürlich sind im Osten nicht alle Nazis. Amtlich bestätigt rund 25%. Jedoch kann man sich dort als marginalisierte Person noch viel unsicherer darüber sein, welcher denn jetzt der Vierte Deutsche ist, der Höcke gut finden könnte. Es sollte die Aufgabe einer Demokratie sein, solche Ängste gar nicht erst aufflammen zu lassen. Und es ist die Aufgabe der Demokratie, den Osten wirtschaftlich nicht gegen die Wand fahren zu lassen und die Menschen in endlosen Leiharbeitsverhältnissen schweben zu lassen.

Wut über das Versäumte

Welche Gefühle trägt man bei all dieser “Wir sind Eins”-Zelebrierung in sich, wenn man weiß und sieht, dass niemand außer nationalistischen Deutschen sich gesichert as Geeinte identifizieren kann? Schlechte, oder gar keine. Eher Wut. Wut darüber, dass nie richtig aufgeräumt, nie integriert wurde. Und gar: Entnazifiziert. Die Rechnung tragen, wie gesagt, nicht die “Wutbürger” oder Westdeutsche, sondern die Opfer des NSU, von Hoyerswerda, Halle und so weiter.

Also was fühle ich jetzt, an diesem 9. November? Einen Impuls, der mir die Verhätschelung und gespielte Einigkeit madig macht, sodass ich sie einfach für non existent erkläre. Eurer geeintes Deutschland, liebe Freunde der Wiedervereinigung, gibt es nicht, so leid es mir tut. Was nie vereint war, kann nicht wiedervereint werden.