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Kommentar: Die türkische Wahl-Show

Präsident Erdoğan will sich die Macht mit allen Mitteln sichern (Bild: Murat Cetinmuhurdar/Presidential Palace/Handout via REUTERS)
Präsident Erdoğan will sich die Macht mit allen Mitteln sichern (Bild: Murat Cetinmuhurdar/Presidential Palace/Handout via REUTERS)

Wahlen sind Kernbestandteil jeder Demokratie – sofern es sich um freie und geheime Wahlen handelt, die auf Grundlage eines fairen Wahlrechts stattfinden. Davon kann in der Türkei heute keine Rede mehr sein; mit einem echten Wahlrecht, das die politische Mitbestimmung freier Bürger regelt, haben die dort inzwischen geltenden Bestimmungen nur mehr wenig zu tun.

Denn der türkische Despot Erdoğan – wohl wissend, dass er in Ansehen und Gunst der Bevölkerung rapide gesunken ist – hat das Wahlrecht noch rechtzeitig seinen politischen Bedürfnissen “angepasst”, bevor seine Allmachtsbestrebungen durch ein demokratisches Votum gefährdet werden können: Er hat einfach beschlossen, dass die bereits im Parlament vertretenen Parteien sogenannte “Wahlbündnisse” eingehen können; als erstes hat sich seine AKP auf diese Weise mit der sterbenden rechtsradikalen MHP – nominell eigentlich einer Oppositionspartei – verbrüdert. Über diese “Bündnisse” kann Erdoğan Kandidaten ins Parlament hieven, die normalerweise an der eigentlich geltenden Zehn-Prozent-Hürde scheitern würden. Auf diese Weise vermag er sich einige Extra-Prozentpunkte zum persönlichen Machterhalt zu verschaffen.

Ein weiterer Taschenspielertrick, dessen sich die Staatsführung bedient, ist die Legalisierung ungestempelter Wahlzettel. Schon bei dem höchst umstrittene Verfassungsreferendum zur Einführung des Präsidialsystems wurde auf diese Weise eine abzusehende Niederlage abgewendet – durch offensichtlichen Wahlbetrug und amtliche Manipulationen. Experten und unabhängige Beobachter gehen davon aus, dass gut zehn Prozent der beim Referendum “abgegebenen Stimmen” glatte Fälschungen waren; Videos eindeutiger Wahlbetrugs-Aktionen kursieren zuhauf im Netz.

Erdoğan denkt nur an Machterhalt

Mit demokratischen Prinzipien und ordentlichen Wahlen haben solche Verhältnisse nicht das geringste zu tun. Der Präsident schert sich darum nicht; für ihn zählt nur der eigene Machterhalt. Welch niedrigen Stellenwert Erdoğan dem Geist und den Buchstaben der türkischen Verfassung beimisst, wird sinnfällig an der Tatsache deutlich, dass er als Präsident streng genommen illegal im Amt ist, weil ihm die Qualifikation für das höchste Staatsamt schlicht fehlt. Die türkische Verfassung schreibt nämlich als Amtsvoraussetzung einen “höheren Universitätsabschluss” vor. Nachweislich besitzt Präsident Erdoğan einen solchen nicht; alles, was er vorweisen kann, ist ein schlecht gefälschtes Diplom, denn ein Examen existiert erst gar nicht. Aber warum auch eine Abschlussarbeit fälschen, wenn man sich einfach eine erfundene Urkunde ausdrucken kann?

Und gerade jetzt ist Erdoğan dabei, ein weiteres Mal das bereits bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlte Recht der türkischen Republik zu brechen. Unter Ausnutzung des patriotischen Kriegstaumels nach der völkerrechtswidrigen Einnahme von Afrîn und einiger kurdischer Gebiete im Nordirak kündigte der Präsident an, die eigentlich für Ende 2019 vorgesehen Präsidentschaftswahlen schon auf Juni 2018 vorzuziehen. Erdoğan ist Zyniker und Realist genug, um abschätzen zu können, dass der ursprüngliche Wahltermin in eineinhalb Jahren ihm höchstwahrscheinlich eine herbe Niederlage eindringen würde – ausgehend davon, dass sich die Stimmung der Bevölkerung, nach dem Abklingen der Euphorie über propagandistische Militäraktionen, bald schon wieder eintrüben dürfte.

Denn zu all den gravierenden bekannten Problemen des Landes – ethnische Spannungen, zunehmend autoritärer auftretende Behörden, fortschreitende Spaltung der Gesellschaft, Terrorgefahr, regionale Instabilitäten – gesellt sich eine ausgewachsene ökonomische Krise: Die türkische Lira befindet sich im freien Fall, die türkische Wirtschaft ist längst dabei, zu kollabieren. Erdoğan erhofft sich von der Vorverlegung des Wahltermins ein günstigeres Ergebnis, denn je später der Urnengang, desto mehr potentielle Protestwähler und Gefolgschaftsverweigerer. Deshalb soll alles so schnell wie möglich gehen. Und falls auch das nicht reicht, sollen den Rest – siehe oben – die genannten “Änderungen” des Wahlrechts besorgen. Die Macht des Autokraten soll um jeden Preis gesichert werden.

Opposition wirkt verzweifelt

In dieser Situation mutet der Versuch der Opposition um die kemalistische CHP geradezu wie eine Verzweiflungstat an, im Sinne des geänderten Wahlrechts ein “Wahlbündnis” mit der neuen nationalistischen İYİ-Partei einzugehen und so auf die Schnelle eine neue Fraktion zu gründen. Dies soll erreicht werden, indem CHP-Abgeordnete in die İYİ eintreten, um so eine parlamentarische Gegenfront zum AKP-Block aufzubauen. Die Vorsitzende der İYİ-Partei, die abtrünnige MHP-Politikerin Meral Akşener, ist bisher neben Erdoğan die einzige offiziell aufgestellte Präsidentschaftskandidatin.

Meral Akşener hat sich von der MHP ab- und dem Kemalismus zugewandt (Bild: REUTERS)
Meral Akşener hat sich von der MHP ab- und dem Kemalismus zugewandt (Bild: REUTERS)

Realistische Chancen haben Erdoğans Herausforderer in den unterschiedlichen Klein- und Splitterparteien sowieso nicht. Bedenklich an der Zweckpartnerschaft zwischen CHP und İYİ ist jedoch, dass die eigentliche naheliegende, wahrhaftig demokratische Kraft in der Opposition, die HDP, völlig außen vor bleibt. Nur mit dieser kurdenfreundlichen Partei wäre eine breite Bewegung gegen den Regierungsblock überhaupt denkbar. Aber ausgerechnet mit der HDP, die für moderne, rechtsstaatliche Strukturen eintritt, hat niemand geredet; die CHP blieb auf Abstand.

Es hat den Anschein, als könnten selbst in der Stunde des drohenden Zusammenbruchs all dessen, was Kemal Atatürk für die Türkei einst erkämpft hatte, dessen politischen Erben ihren rassistischen Hass auf die Kurden nicht überwinden – obwohl der gemeinsamen Feind von Freiheit und Republik heute nur noch Erdogan heißt. Und alleine wird es für die HDP schwer. Erdoğan hat viele der HDP-Abgeordneten aus Angst ins Gefängnis werfen lassen, damit sie seiner Diktatur nicht im Wege stehen.

So kann man – wieder pessimistisch noch resignativ, sondern nur realistisch – leider schon heute prognostizieren: Erdoğan wird “wiedergewählt” werden, wenn auch mit deutlichen Verlusten. Und er wird die Türkei weiter in den Abgrund reißen.