Kommentar: Diese Sondierungsteams grenzen aus

Fehlt im Sondierungsteam der Grünen: Cem Özdemir (Bild: REUTERS/Hannibal Hanschke)
Fehlt im Sondierungsteam der Grünen: Cem Özdemir (Bild: REUTERS/Hannibal Hanschke)

Die Parteien tasten sich gegenseitig ab: Wer wird mit wem regieren? Klar ist aber eines: Menschen mit Migrationsgeschichte sitzen kaum am Tisch. Das ginge auch anders.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Man gewöhnt sich ja an vieles. In Berlin spielen die Behörden gerne miteinander Pingpong, Döner hat die Currywurst abgelöst und Kanzlerin ist eine Frau – halt, bei letzterem scheint es Veränderungen zu geben. Traditionen bilden sich heraus. Beständigkeit ist ihr Karma. Eine Tradition heißt, dass Politik eine Angelegenheit weißer Männer ist; das offenbart der Blick in die Geschichte deutscher Spitzenjobs.

Und nicht anders präsentieren sich die Teams jener Parteien, die gerade sondieren, ob sie miteinander ein Regierungsbündnis schmieden. Traditionen lieben blinde Flecke. Mir selbst war nicht aufgefallen, dass von den insgesamt 41 Menschen, die nun in die „Abtastungen“ gehen, nur ein einziger über eine Migrationsgeschichte verfügt. Das ist CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, der einmal Paweł hieß und im Alter von drei Jahren mit seiner Familie von Polen nach Deutschland kam. Das ist eine armselige Quote angesichts von 26,7 Prozent der Gesamtbevölkerung, die eine Migrationsgeschichte haben. Immerhin waren 7,9 Millionen von ihnen zur Bundestagswahl wahlberechtigt, das macht einen Anteil von 13 Prozent aller Wahlberechtigten.

Einem fiel das auf. Der Rechtsanwalt, Kolumnist und Autor Mehmet Daimagüler schreibt auf Facebook: „Liebe deutsche Parteien: Schämt ihr Euch eigentlich nicht? Ist es Euch wenigstens ein wenig peinlich? Ich weiß, weder das eine oder andere ist der Fall. Ihr seid mit Euch selbst ganz dufte im reinen. Wenn es um echte politische Teilhabe geht, macht Ihr das fein unter Euch aus.“

Schlecht normal

Einer von 41, das entspricht einer Quote von 2,4 Prozent. Dieser Wert ist jämmerlich. Aber in dem Sinne normal, dass es nicht nur die Parteien nicht juckt, welche diese Auslese betreiben, sondern auch die Medien. Über die Sondierungen wird gerade rauf- und runtergeschrieben. Wer mit wem und über was – das ist das beherrschende Thema in den Nachrichten. Klar, wer bei diesen Teams mitmischt, steckt nicht nur inhaltliche Claims ab, dreht an den Stellschrauben deutscher Regierungspolitik der kommenden vier Jahre, sondern ist selbst Kandidat für eine Aufgabe im Kabinett.

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Moment, werden Sie vielleicht anmerken, mit einer Quote lässt sich doch nicht alles regeln, es sollen eben die Besten und Versiertesten an den Verhandlungstisch. Klar, aber es ist nicht so, dass es sie nicht gäbe: die Politikerinnen und Politiker mit migrantischen Namen. Als zum Beispiel bekannt wurde, dass Cem Özdemir nicht zum Sondierungsteam gehört, regte sich Kritik, die „taz“ kommentierte, „die handverlesene Truppe ist so divers wie Weißwurst“; was unfair gegenüber der Weißwurst ist, besteht sie doch nicht nur aus Fleisch, sondern auch aus Speck und Gewürzen allerlei Art, aber wir verstehen, was die „taz“ meint: Özdemir ist ein Experte in Innen- und Verkehrspolitik und überhaupt – auf ihn zu verzichten ist schon dreist. Und warum nicht im Blick haben, dass die Verhandler gewisse Lebenserfahrungen großer Bevölkerungsgruppen spiegeln?

Interessant ist natürlich, dass die Grünen dafür zu Recht gescholten wurden, die es ihnen gleichtuenden anderen Parteien aber damit unkommentiert durchkommen. Blinder Fleck halt, normal. Aber schlecht normal.

Wagenburgen kommen nie voran

Es geht hier nicht um die Privilegierung kleinerer Gruppen, nicht um das Pushen von Leuten, die es wegen ihrer Leistung oder Kompetenz ansonsten nicht brächten; von letzterem findet man immer, wenn man danach sucht. Vielmehr geht es um eine bessere Politik, die durch vertieftes Verständnis mehr davon weiß, was sie macht: Warum sind also so wenige migrantische Namen am Tisch, auch nur 13 Frauen von 41, und wie viele haben eine Ausbildung absolviert, wie viele kennen das Leben mit einer Behinderung?

Jetzt wird es aber zu bunt, mag die eine oder andere einwenden, so zerfaserte doch alles. Im Gegenteil: Wenn Lebenswirklichkeiten ins Bewusstsein rücken, geht der Blick nach vorn. Und zu niemanden Kosten wäre es auch. Denn anzunehmen, etwa nur die Menschen mit Migrationsgeschichte hätten eine Aufgabe, sich „einzubringen“, ist ein Irrtum, oder in den Worten Daimagülers: „Integration ist keine Einbahnstraße. Wo ist denn Eure Integrationsbereitschaft?“ Es wird so viel in Deutschland über Integration gesprochen, da wären sich weniger abschottende Sondierungsteams eine echte Chance. Zumal: Wenn sich eine Koalition „Ampel“ nennt, sollte sie weniger Einbahnstraßen und Sackgassen anvisieren, sondern die Kreuzungen.

Die deutschen Parteien glänzen dabei derzeit nicht gerade durch einen Ehrgeiz, der durch die Decke geht. Sie dürften sich noch mehr einbringen. Und zwar anders, als sie aktuell meinen.

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