Kommentar: Europa blamiert sich angesichts des Kriegs gegen die Kurden – dabei könnte eine Menge getan werden

A Turkey-backed Syrian rebel fighter gestures to the camera at the border town of Tel Abyad, Syria, October 14, 2019. REUTERS/Khalil Ashawi
Ein von der Türkei unterstützter syrischer Milizionär an der Grenze zwischen beiden Ländern - kurz nach der türkischen Offensive (Bild: REUTERS/Khalil Ashawi)

Die EU präsentiert sich als Papiertiger, die USA sind abgetaucht – schlechte Zeiten für Menschenrechte: Doch der türkische Kriegszug kann rasch gestoppt werden.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Für einige Deutsche ist der Einmarsch türkischer Streitkräfte nach Syrien eine Befreiung. Nur sind diese nicht gerade Everybody’s Darlings: Jene deutschen Kämpfer der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS), die nach dem türkischen Beschuss eines kurdischen Lagers aus der Gefangenschaft fliehen konnten, finden die Offensive Ankaras dufte. In der Türkei selbst dürfte es auch Sympathien für den Einmarsch geben. Und der so genannte Westen schaut entsetzt zu.

Was ist passiert? Im Norden Syriens, in den von Kurden bewohnten Regionen, hatte sich im Schatten des Bürgerkriegs eine stabile Regierung etabliert – verwaltet von Kurden. Sie haben zivile Strukturen aufgebaut und kämpften an vorderster Front gegen den IS, die Komplimente von Berlin bis Washington D.C. wollen nicht enden. Doch das brachte den Kurden nichts. Denn der türkischen Regierung sind sie ein Dorn im Auge: Seit Jahrzehnten unterdrückt der türkische Staat kurdische Autonomiebestrebungen in seinen eigenen Grenzen; die Kurden verteilen sich auf die Staatsgebiete Syriens, Irans, Iraks und der Türkei. Bei der staatlichen Aufteilung des Nahen Ostens nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs im Zuge des Ersten Weltkriegs waren sie schlicht übergangen worden.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat also seit langer Zeit darüber geraunt, in die kurdischen Gebiete Syriens seine Soldaten zu schicken. Denn die dort regierende Partei PYD ist tatsächlich mit der PKK verbandelt – einer kurdischen Organisation, die sich mit Ankara im Kriegszustand befindet.

Doch was jetzt passiert, ist eine wahre Tragödie. Das Vorgehen der PKK ist niemals derart desaströs für den türkischen Staat, dass dies eine Militäroffensive rechtfertigte. Nun aber sterben Menschen, auch Zivilisten, weil Erdogan einen fiesen Machtpoker spielt. Dies gelingt ihm deshalb, weil die USA vor kurzem ihre die Kurden schützenden Soldaten abgezogen haben. Es reichte ein Telefonat zwischen Erdogan und US-Präsident Donald Trump, und letzterer ließ sich über den Tisch ziehen. Auf Trump ist halt kein Verlass. Wo er sich keinen persönlichen Gewinn verspricht, regiert die Ignoranz. Damit erschüttert er auch seine eigene Partei, die ihn beschworen hat, die alliierten Kurden nicht im Stich zu lassen – aber so ist er halt. So sad. Und so erwartbar.

Das Gift des Nationalismus

Weder moralisch noch politisch ist diese Offensive begründet. Sie schafft nur Unheil. Und den türkischen Fußball-Nationalspielern, die im Schatten eines Spiels gegen Albanien einen militärischen Gruß zeigten, kann man nur zurufen, dass sie sich den sonstwohin stecken können – aber es gibt halt ein Recht auf Dummheit, was auch für Fußballprofis gilt, die solche Gesten in den Sozialen Medien liken. Nichts Heldenhaftes steckt in der türkischen Offensive, sondern nur der feige Beutezug eines überlegenen Nachbarstaats. Nun kann es, wie schon 2018 in der Gegend von Afrin geschehen, zu ethnischen „Säuberungen“ kommen: Die türkischen Soldaten kooperieren mit syrischen Milizen, die zum Teil islamistisch ausgerichtet sind, vor allem sind es Araber. Der IS, der eigentlich als geschlagen gilt, erhält nun eine neue Chance sich neu aufzurichten. Es wird neue Fluchtbewegungen geben, und sie werden in Richtung Europa tendieren: Denn die Nachbarländer Syriens werden müde ob der vielen geflüchteten Syrer.

Dass die Fußballer auf dem Rasen so tun, als wären auch sie Soldaten (welch erbärmliche maskulinistische Geste), zeigt auch, dass dieses Problem nicht nur bei Erdogan und seiner konservativ-islamisch ausgerichteten Partei liegt. In der Türkei gibt es viele rechte und linke Nationalisten, die säkular sind und mit Erdogans konservativem Islamkurs nichts anfangen können. Wenn es aber gegen Kurden geht, spinnen sie alle gemeinsam; es ist das Gift, welches seit hundert Jahren von den Militärs der Türkei versprüht wird und die Herzen versteinert.

Und Europa schaut zu. Die EU-Mitgliedsländer haben gemeinsam laut getönt und beklagt, überlassen aber etwaige Waffenembargos der Entscheidung nationaler Regierungen. Und eine Arbeitsgruppe wird gegründet. Dies wird Erdogan nicht unbedingt tief beeindrucken.

Solcher Druck ist nötig wie möglich. Der Türkei müssen Grenzen aufgezeigt werden. Eine Blauhelmmission der Vereinten Missionen könnte zusammengestellt werden, welche als Puffer an der Grenze stationiert wird. Auch kann eine Flugverbotszone eingerichtet werden. Und die Türkei ist Nato-Mitglied. Derzeit heißt es aus dem Hauptquartier in Brüssel, daher müsse man behutsam mit Ankara umgehen, auch Außenminister Heiko Maas (SPD), die zuverlässige Nullnummer im Amt, schwafelt davon, wie wichtig es sei den Dialog aufrecht zu erhalten; es wird ein Dialog sein, über den Erdogan nur lacht.

Yes, we can

Daher wird andersrum ein Schuh draus: Gerade weil die Türkei Mitglied der Nato ist, müssen die anderen Paktländer Druck ausüben. Oder wollen sie etwa der Türkei zur Hilfe eilen, wenn die syrische Armee auf Seiten der Kurden türkische Soldaten in Syrien angreift? Auch droht Erdogan, bei einem Konflikt mit der EU seine Grenzen zu öffnen und syrische Geflüchtete gen Europa zu lassen – doch dann muss die EU umso mehr ihre Stärke zeigen und nicht vor Ankara buckeln. Geflüchtete sind kein Faustpfand. Und die türkische Offensive schafft nur noch mehr Fluchten.

Vieles ist möglich. Es muss nur getan werden. Es wäre an der Zeit Geschichte nicht wiederholen zu lassen. 1975 wurden die Kurden des Iraks auch von den USA schmählich im Stich gelassen: Damals gab sich das Weiße Haus damit zufrieden, dass sich der Irak (mit Saddam Hussein als Vize-Präsident) in einem Rivalitätsschaulaufen mit dem vom Schah regierten Iran kleinbeigibt – die massive militärische Unterstützung der Amerikaner für die Kurden, die sich gegen die irakische Regierung wehrten, endete abrupt. Heute indes interessiert sich Trump für nichts. Wollen wir wirklich seinen Weg gehen?