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Kommentar: Getürkte Wahlen

Recep Tayyip Erdogan feierte schon früh seinen Wahlsieg (Bild: Kayhan Ozer/Presidential Palace/Handout via Reuters)
Recep Tayyip Erdogan feierte schon früh seinen Wahlsieg (Bild: Kayhan Ozer/Presidential Palace/Handout via Reuters)

Wie viele zuvor schon befürchtet hatten, wurden die gestrigen türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen maßgeblich von staatlichen Wahlfälschungen und Tricksereien bestimmt. Eigentlich verwunderte dies kaum jemanden – denn Wahlbetrug in der Türkei ist nicht erst seit gestern ein Thema: Von freien Urnengängen und ordentlichen demokratischen Wahlregeln konnte schon seit Jahren keine Rede mehr sein.

Spätestens die offensichtlichen Manipulationen des Verfassungsreferendums hatten dies überdeutlich gemacht. Doch alle Unregelmäßigkeiten rund um die damalige Abstimmung wurden von den aktuellen Betrügereien und behördlichen Einflussnahmen locker in den Schatten gestellt. Mit demokratischen Wahlen hatte das, was gestern in der Türkei veranstaltet wurde, nichts mehr zu tun.

Manipulationen von langer Hand

Schon im Vorfeld hatte der Erdogan-Apparat nichts dem Zufall überlassen, um die Chancen seiner Herausforderer und politischen Gegner nach Kräften zu beschneiden. Hunderte Politiker der pro-kurdischen und demokratischen Partei HDP sitzen seit geraumer Zeit in Haft, darunter der charismatische Ex-Co-Vorsitzende Selahattin Demirtaş. Immer wieder wurden Parteibüros der HDP, wie auch der kemalistischen CHP, zum Ziel islamistischer und nationalfaschistischer Übergriffe, ausgeführt von gedungenen Schlägern und Schergen der AKP und der MHP. Der regimetreue Mob durfte seinem Vandalismus freien Lauf lassen.

Damit nicht genug: Die Immunität zahlreicher HDP-Abgeordneter wurde aufgehoben, vielen wurde durch willkürliche Aburteilungen durch dubiose Scheingerichte zudem das Mandat entzogen.

Der streng genommen rechtswidrig im Amt befindliche Staatspräsident Erdogan – laut Verfassung muss der Staatspräsident einen höheren Universitätsabschluss vorweisen können, was auf Erdogan mit seinem gefälschten Diplom nicht zutrifft – hatte sich in einem aktuellen Zustimmungshoch gesehen, als er vor zwei Monaten siegessicher vorgezogene Neuwahlen verkündete. Sein Ziel war, die Opposition zu überrumpeln und mit Hilfe des neuen Wahlrechts sogleich zu entmachten.

Unerwarteter Widerstand

Mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die friedliche und demokratische syrische Enklave Afrîn hatte Erdogan darauf gesetzt, sich zusätzlichen nationalistischen Rückenwind zu verschaffen. Doch Erdogan drohte, sich zu verzocken.

Das taktisch geschickte Paktieren der kemalistischen CHP (die bei uns oft irrtümlicherweise als “Sozialdemokraten” bezeichnet werden) mit anderen Erdogan-Gegnern aus dem nationalistischen und islamistischen Lager hatte er nicht auf seiner Rechnung gehabt. Plötzlich trat eine Opposition als konzertiertes Zweckbündnis auf, das in ihm – bei allen inhaltlichen Kontroversen – den gemeinsamen Gegner sah.

Auch den Kampfeswillen der HDP hatte der “Reis” (türkisch für Führer) offenkundig unterschätzt. Plötzlich ahnte Erdogan in seinem (illegal und ohne Baugenehmigung errichteten) Milliarden-Palast in Ankara, dass ihm die Felle davonschwammen. Er wurde nervös.

Hartes Vorgehen gegen die Opposition

Je näher der Wahltermin rückte, desto aggressiver wurde deshalb das Regiment des Despoten: Wahlkampfauftritte der Opposition wurden verboten, blockiert oder behindert, wo es nur ging. Wahlplakate wurden systematisch zerstört. Wahlkämpfer wurden brutal überfallen oder sogar – wie in Suruç geschehen – erschossen. Einzig die islamistische Regierungspartei AKP und ihr nationalfaschistischer Partner MHP durften frei agieren; sie hatten überdies die von Erdogan kontrollierte türkische Medienlandschaft auf ihrer Seite.

Die Manipulationsversuche beschränkten sich nicht nur auf den Wahlkampf in der Türkei selbst. Im Ausland – beispielsweise Deutschland – köderte die AKP Wähler mit dreisten Offerten zum Stimmenkauf: AKP-Anhänger fingen mehreren Berichten zufolge Deutschtürken auf dem Weg zur Wahlkabine ab und versprachen ihnen einen 50-Euro-Handygutschein, wenn sie ihre Stimme an Erdogan verkauften.

Viele nahmen diesen Wahlbetrug dankbar an, dokumentierten wie gewünscht den “korrekt” angekreuzten Wahlzettel – und stolzierten wenig später mit der AKP-Geschenktüte nach Hause. Ein ehr- und würdeloses Verhalten nicht nur von der AKP, sondern auch ihren Wählern, die Bände über das Demokratieverständnis aller Beteiligten spricht.

Behinderungen am Wahltag

All diese Vorgänge, die bereits seit Wochen an der Tagesordnung waren, ließen nicht Gutes für den gestrigen Wahlsonntag in der Türkei erahnen. In der Tat: Bei den Wahlen selbst wurde nichts unversucht gelassen, durch Schikanen und Einschüchterungen so viele demokratische Wähler wie möglich von den Wahlkabinen fernzuhalten.

So war in den Kurdengebieten bereits der Weg zur Stimmabgabe ein Hindernis, da Erdogans Regierung mehrere Wahlbezirke so zusammengelegt hatte, dass die Entfernung zum nächsten Wahllokal für viele nahezu unüberwindbar war. Zusätzlich wurde streckenweise der öffentlichen Nahverkehr unterbrochen, um die Anreise weiter zu erschweren. Motto: Wen man schon jemand anderem als Erdogan seine Stimme gibt, soll man dafür ruhig kilometerweit zu Fuß laufen müssen.

Was sich in den Wahllokalen selbst abspielte, spottet nach Schilderungen von Beobachtern jeder Beschreibung. Es ging, freundlich ausgedrückt, “drunter und drüber”: Anti-Erdogan-Stimmen wurden aus den Wahlurnen gefischt, weggeworfen und durch gefälschte Wahlzettel (mit gestempelten “EVET” – “JA” – neben dem AKP-/Erdogan-Auswahlfeld) ausgetauscht. Manch ein AKP-Büttel stand gar mit hunderten Wahlscheinen vor der Urne, um auch ja für ein “klares Ergebnis” zu sorgen.

Wahllokale, in denen die Erdogan-Helfer keine Kontrolle über die Wahlkommitees erlangen konnten und unparteiische Wahlhelfer derart dreiste Stimmenmanipulationen zu verhindern versuchten, wurden von AKP-Anhängern gestürmt; unabhängige Wahlbeobachter wurden aus den Lokalen geprügelt. Wahlvorstände, die nicht zum Regierungslager gehörten, wurden des Lokales verwiesen, teilweise sogar verhaftet. Ziel war auch hier, möglichst ungestört die Stimmen auszutauschen.

Zahlreiche Hinweise auf Wahlmanipulation

Etliche derartiger skandalöser Vorgänge und Übergriffe wurden dokumentiert; dank moderner Smartphones und den sozialen Netzwerken (Twitter und Facebook) konnte jeder interessierte Bürger live miterleben, wie im großen Stil Wahlbetrug abläuft und welche Farce gestern in der Türkei zelebriert wurde. Die Augenzeugenberichte sind in der Welt, tausende Bilder bestätigen sie.

Seriös bestreiten lassen sich die glasklaren Manipulationen also nicht. Ob sie allerdings Folgen haben werden, muss stark bezweifelt werden: Juristisch schon deshalb nicht, weil die Richter in der Türkei nicht mehr unabhängig sind, sondern auf das Kommando Erdogans hören, wenn sie nicht selbst jahrzehntelange Gefängnisstrafen riskieren wollen.

Und außenpolitisch wird Erdogan ebenso kein Ungemach drohen: Die westlichen Verbündeten der Türkei, voran die NATO-Partner, haben in der Vergangenheit bereits schlimmste Kriegsverbrechen und Völkermorde zynisch grinsend geduldet oder sogar abgesegnet. Auf einen Wahlbetrug mehr oder weniger wird es da nicht ankommen. Hauptsache, die Wirtschaft boomt und die Kasse klingelt, egal wieviel Blut an jedem verdienten Euro klebt.

CHP bricht ihr Versprechen

Erdogan und seine Schergen haben es geschafft, die gestrige Wahl so zu manipulieren, dass es keine Stichwahl geben wird. Der Kandidat der CHP, Muharrem Ince, brach noch in der Nacht sein großspuriges Wahlversprechen “bis zum Schluss zu kämpfen”, und erkannte den falschen Sieg Erdogans an. Dass er dies tat, mag mit dem nicht unberechtigten Sorge vor einem türkischen Bürgerkrieg zusammenhängen.

Das gesellschaftliche Konfliktpotential ist gigantisch: Immer mehr Menschen sind über die politische Situation wütend, eine klare Mehrheit lehnt Erdogan ab – ganz gleich, wie sehr seine Wahlergebnisse frisiert sind. Vielleicht wollte Ince die Wogen glätten; doch ob der prompte Kniefall der CHP die Gemüter beruhig, bleibt abzuwarten.