Kommentar: Halabja, Afrîn, Berlin

Friedhof der Opfer in Halabja (Bild: AP Photo/Yahya Ahmed)
Friedhof der Opfer in Halabja (Bild: AP Photo/Yahya Ahmed)

Auf den Tag genau heute vor 30 Jahren nahm abseits der Weltöffentlichkeit ein epochales Verbrechen unter deutscher Beteiligung seinen Lauf, an das die Bundesregierung nicht gerne erinnert werden will. 5000 Menschen wurden binnen weniger Minuten ermordet, genauer: Sie wurden vergast.

Das grauenvolle Verbrechen ereignete sich im Irak, präziser: im Norden des Iraks, in der kurdischen Stadt Halabja. Der damalige irakische Diktator Saddam Hussein hatte den Giftgasangriff auf die bevölkerungsreiche Stadt angeordnet; die Menschen – überwiegend Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder – erstickten qualvoll. Der Ursprung des eingesetzten Giftgases war – Deutschland.

Die Untat bildete die nur Speerspitze eines von Saddams Schergen geplanten Genozids, der den Namen “Operation Anfal” (“Beute”) trug; ein bewusst aus dem Koran entlehnter Begriff, um die sunnitische Bevölkerungsmehrheit des Iraks gegen die Einwohner der Kurdengebiete aufzuhetzen. In den betreffenden nordirakischen Provinzen lebten neben Kurden vor allem Assyrer, Chaldäer und Jesiden.

Grund genug für das Regime in Bagdad, diese kulturell so vielfältige Region zu “säubern” – und zwar von ihren angestammten einheimischen Bewohnern. Vorgesehen war, dort neuen Lebensraum für sunnitische Araber zu erschließen. Also wurden hunderttausende Menschen verschleppt, deportiert – oder gleich umgebracht. 4000 kurdische Dörfer wurden damals zerstört, und arabische Bauern in der Folge angesiedelt.

Deutsches Giftgas

Die damaligen Vorgänge sind “ein vergessener Völkermord, für den nur wenige zur Rechenschaft gezogen wurden… auch weil internationale Wirtschaftsinteressen im Spiel waren”, sagt Ali Ertan Toprak, Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland. In der Tat: Auch zahlreiche deutsche Firmen halfen dem Irak beim Aufbau jener Fabriken, in denen die tödlichen Chemikalien produziert wurden, die den Menschen in Halabja zum Verhängnis wurden.

Gedenkstätte für die Opfer des Gasangriffs in Halabja (Bild: Reuters)
Gedenkstätte für die Opfer des Gasangriffs in Halabja (Bild: Reuters)

Nur sehr wenige der beteiligten Firmen mussten sich juristisch je für ihre faktische Mitwirkung an dem Jahrhundertverbrechen verantworten. Für die Opfer und ihre Angehörigen ein unerträglicher Zustand: Heute, 15 Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins, warten zahlreiche Überlebende noch immer auf eine eingehende Untersuchung oder gar Entschädigung. Toprak klagt an: “Seit 30 Jahren streitet die deutsche Regierung eine Mitverantwortung für die Vorfälle in Halabja ab.”

Geschichte wiederholt sich in diesen Tagen

Schlimmer noch: Wenig wurde aus der Vergangenheit gelernt. Und wer da meint, Geschichte wiederhole sich nicht, braucht aktuell nur auf die ehemals friedliche Enklave Afrîn im Norden Syriens zu blicken. Das NATO-Mitglied Türkei unter dem Despoten Erdogan hat dort, vor den Augen der Weltöffentlichkeit, eine zweite “Operation Anfal” gestartet; nur nennt er sie “Operation Olivenzweig”. Hand in Hand mit den schlimmsten islamistischen Mörderbanden, zusammengesetzt aus Dschihadisten der Freien Syrischen Armee (FSA), aus al-Qaida-Terroristen und Ex-ISIS-Schlächtern, haben türkische Soldaten Afrîn überfallen.

Ein klar völkerrechtswidriger Angriff, den Erdogan mit dem von ihm je nach Interessenlage willkürlich bemühten Allzweckargument “Kampf gegen Terrorismus” rechtfertigt. Angeblich zieht er zu Felde gegen “Terroristen, die die Türkei bedrohen”. Fakt jedoch ist, dass von Afrîn, wie auch von ganz Nordsyrien aus, zu keinem Zeitpunkt je ein Angriff auf die Türkei erfolgt war. In den türkischen Medien verbreitete Bilder von angeblichen Attacken – kurz vor dem Überfall – deuten viel eher auf eine propagandistische Eigenproduktion der Türkei hin als auf das Werk der mutigen Freiheitskämpferinnen und -Kämpfer der YPG/YPJ. Der Überfall auf Polen 1939 und die Scharade um den Sender Gleiwitz lassen grüßen!

Zehntausende sind bereits vor den türkischen Angriffen aus Afrîn geflüchtet (Bild: AFP)
Zehntausende sind bereits vor den türkischen Angriffen aus Afrîn geflüchtet (Bild: AFP)

Wie einst Saddam Hussein hat auch Erdogan seinem Volk “neuen Lebensraum” versprochen; und so wird Dorf um Dorf von seinen Mörderbanden zerstört. Die Häuser der Menschen werden geplündert, die Bewohner vertrieben oder getötet – und es werden sunnitische Araber und irakische Turkmenen angesiedelt, um das Gebiet “rein” zu machen von Christen, Jesiden und Kurden. Dies ist das lupenreines Beispiel einer großangelegten ethnischen Säuberung, nichts anderes.

Und wieder verdient Deutschland mit

Und auch diesmal hat Deutschland wieder seine Finger mit im Spiel – es ist tief in dieses Verbrechen verstrickt. Die Bundesregierung genehmigt mit geschlossenen Augen, in einer fatalen Haltung von Ignoranz und Arroganz, unbeirrt alle gewünschten Rüstungsexporte in die Türkei. Deutsche Waffen begehrt das Erdogan-Regime besonders dringend; deutsche Qualitätsprodukte stehen hoch im Kurs, schließlich soll die Ausrottung der Menschen in Afrîn und Umgebung doch besonders effektiv erfolgen.

Allerdings besteht ein gravierender Unterschied zu 1988: Diesmal kann sich die Bundesregierung nicht mit den schalen Phrasen aus der Affäre ziehen, man habe von nichts gewusst, oder die eigentliche Verwendung der (Rüstungs-)Güter sei nicht vorhersehbar gewesen. Was in Nordsyrien geschieht, ist wohldokumentiert und unwiderlegbar. Nicht nur sind die Konten deutscher Rüstungsfirmen prall gefüllt mit türkischen Lira; sondern an den Händen der Manager, wie auch der Bundesregierung, klebt das Blut jesidischer, christlicher und kurdischer Männer, Frauen und Kinder.

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