Kommentar von Hans-Dieter Heumann - Regierung muss sich der Verantwortung bewusst sein, die sie für Europas Sicherheit trägt

Für den Aufmarsch von NATO-Truppen ist Deutschland schon von seiner geographischen Lage her Drehscheibe<span class="copyright">Jens Büttner/dpa</span>
Für den Aufmarsch von NATO-Truppen ist Deutschland schon von seiner geographischen Lage her DrehscheibeJens Büttner/dpa

Die Streitereien über den Haushalt offenbaren etwas viel gefährlicheres als Uneinigkeit in der Finanzpolitik. Ist sich die Regierung der Verantwortung bewusst, die sie für die Sicherheit in Europa trägt? Diese sei wichtiger als die Einhaltung der Schuldenbremse, sagt Ex-Dpilomat Hans-Dieter Neumann.

Die Bedrohung der europäischen Sicherheit ist eine doppelte: Zum einen rüstet Russland in einem Maße auf, dass es in ein paar Jahren die Nato angreifen könnte. Präsident Putin richtet seine Streitkräfte in Richtung Westen aus. Er ordnet den Aufbau einer Kriegswirtschaft an, die offenbar nicht nur für den Bedarf im Krieg gegen die Ukraine produziert. Seine Armee soll auf 1,5 Millionen Soldaten anwachsen.

Die andere Bedrohung liegt in einem möglichen Sieg Russlands in seinem Krieg gegen die Ukraine. Wenn in Europa hingenommen wird, dass die territoriale Integrität eines Landes verletzt wird, wenn eine Aggression wie die russische straflos bleibt, ist nicht nur die europäische Sicherheit zerstört. Territoriale Integrität ist ein universales Prinzip, seine Verletzung ermuntert autoritäre Regime in der ganzen Welt, den Erfolg in der Aggression zu suchen.

 

Hat die Regierung diese Dimensionen der europäischen Sicherheit verstanden?

Die Antwort liegt nicht nur darin, wie viel Geld sie für die Verteidigung und die militärische Unterstützung der Ukraine bereitstellt. Aber schon hierbei sind Zweifel angebracht. Der deutsche Verteidigungshaushalt wird das 2-Prozent-Ziel in dieser Legislaturperiode mit Hilfe des Sondervermögens erreichen.

Ist es seriös, die Verstetigung des Verteidigungshaushaltes der nächsten Bundesregierung zu überlassen? Die Bundesregierung rühmt sich, mit seiner militärischen Unterstützung der Ukraine unter den Mitgliedern der Nato an zweiter Stelle hinter den USA zu stehen. Dies gilt in absoluten Zahlen, gemessen am BIP liegt Deutschland im Mittelfeld.

Die Zeitenwende wird die Bundesregierung erst vollzogen haben, wenn sie die strategischen Implikationen ihrer Entscheidungen bedenkt, wenn sie überhaupt anfängt, strategisch zu denken, und sich nicht nur dem Primat der Innenpolitik ausliefert. Die militärische Unterstützung der Ukraine ist eben keine Verfügungsmasse in Haushaltsstreitigkeiten. An ihr dürfen keine Zweifel aufkommen. Nur so kann dem russischen Präsidenten das klare Signal gegeben werden, dass er Deutschland und den Westen nicht zermürben kann.

Strategie ist ein Ziel-Mittel Verhältnis. Angesichts der doppelten Bedrohung der europäischen Sicherheit durch Russland ist das Ziel klar, einerseits eine glaubwürdige Abschreckung Russlands vor einem Angriff auf die Nato und andererseits ein unmissverständliches Bekenntnis zu einem Sieg der Ukraine in dem vom Russland aufgezwungenen Krieg. Setzt die Bundesregierung die Mittel ein, die diesem Ziel entsprechen?

Sie hat mit der Verkündigung der Zeitenwende immerhin ihre bisherige Sicherheitspolitik endgültig auf den Kopf gestellt, vom Krisenmanagement auf die kollektive Sicherheit, ein Prozess, der nach der Annexion der Krim durch Russland und dem Beginn des Krieges im Donbass 2014 begonnen hatte.

Neue Qualität der Abschreckung: Deutsche Brigade in Litauen

In ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie vom Juni 2023, der ersten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland überhaupt, stellt die Bundesregierung folgerichtig den Anspruch, mit der Bundeswehr das „Rückgrat“ der kollektiven Verteidigung in Europa zu sein. Auch wenn dieser Anspruch noch nicht eingelöst ist, könnte Deutschland in diese Rolle hineinwachsen. Es war in der Nato bereits mehrfach sogenannte Führungsnation und wird mit dem Aufbau einer Brigade in Litauen zu einer neuen Qualität der Abschreckung beitragen.

Die Nato verstärkt nicht nur ihre Einsatzbereitschaft, sondern ihre Präsenz an der Ostflanke, außer in Litauen auch in Polen, der Slowakei und Rumänien. Für den Aufmarsch von Nato-Truppen ist Deutschland schon von seiner geographischen Lage her Drehscheibe. Der Krieg gegen die Ukraine hat schließlich die Aufmerksamkeit auf die Schwächen Deutschlands und der Nato bei der Luftverteidigung gelenkt.

Mit seiner Initiative zum Aufbau einer europäischen Raketenabwehr (European Sky Shield Initiative) ist Deutschland in Europa in Führung gegangen. Die bis zu 600 Patriot-Raketensysteme, die die USA Deutschland verkaufen, dienen nicht nur dem Schutz Deutschlands, sondern der Nato insgesamt vor russischen Raketen, Marschflugkörpern und Flugzeugen.

 

In Deutschland wird der Schwerpunkt der Abschreckung gegen russische Systeme liegen, die etwas über 500 km entfernt von Berlin in Kaliningrad, aber auch in Belarus liegen. Die Bundesregierung hat die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern in Deutschland ab 2026 bisher gegen innenpolitischen Widerstand durchgesetzt. Die Geschichte des Nato-Doppelbeschlusses in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts hat sich bisher jedenfalls nicht wiederholt.

Damals konnte die von der SPD geführte Bundesregierung die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckensystemen (INF) in Deutschland als Reaktion auf die Aufrüstung der entsprechenden sowjetischen Systeme (SS 20) nicht durchsetzen, obwohl dieser Beschluss mit einem Verhandlungsangebot an die Sowjetunion verbunden war.

Der Krieg gegen die Ukraine hat die deutsche Sicherheitspolitik insoweit verändert, dass sie wieder der Logik der kollektiven Verteidigung, der Abschreckung folgt. Eine Zeitenwende aber wäre erst dann erreicht, wenn Deutschland im Verhältnis zu Russland die jahrhundertelang gepflegte Illusion einer gesamteuropäischen Friedensordnung aufgibt, in der Russland ein gleichartiger Partner ist. Die deutsche Ostpolitik hatte im Kalten Krieg ihre Berechtigung, aber sie ist nicht auf heute übertragbar.

Putin wird von imperialer Logik getrieben

Russland versteht sich selbst nicht mehr nur als Teil einer europäischen Ordnung, sondern als Pol in einer multipolaren Welt, an der Seite Chinas, des Iran oder Nordkoreas. Es befindet sich zwar objektiv in einem Sicherheitsdilemma mit der Nato. Putin aber wird nicht nur von einer sicherheitspolitischen, sondern einer imperialen Logik getrieben. Sein Regime ist korrupt, kriminell und deshalb gefährlich. Der Krieg gegen die Ukraine hat andererseits gezeigt, dass Russland eine schwache Seite hat. Es hat bisher keines seiner Kriegsziele erreicht. Zu einer Eskalation des Krieges ist es nicht in der Lage. Sie ist nicht zu fürchten.

Der ukrainische Angriff auf die russische Region Kursk war nur eine weitere „rote Linie“ Russlands, die überquert wurde. Die Bundesregierung muss sich dazu durchringen, auf einen Sieg der Ukraine in diesem Krieg zu setzen, nicht nur auf eine Unterstützung, „so lange wie nötig“. Einen faulen Frieden zwischen der Ukraine und Russland, einen ungerechten Frieden kann die führende Macht in Europa nicht verantworten.