Kommentar von Hugo Müller-Vogg - Kleinkarierte Flug-Wut: Wollen wir wirklich, dass der Kanzler 6 Stunden im ICE sitzt?

Bundeskanzler Olaf Scholz besuchte einige EM-Spiele und nahm auch seine Frau Britta Ernst mit. (Archivbild)<span class="copyright">Christian Charisius/dpa</span>
Bundeskanzler Olaf Scholz besuchte einige EM-Spiele und nahm auch seine Frau Britta Ernst mit. (Archivbild)Christian Charisius/dpa

Die Kritik an den Flügen von Scholz und einigen Kabinettsmitgliedern zu EM-Spielen ist kleinkariert und bringt vor allem schlichte Gemüter in Wallung. Hier werden Neid und Verachtung für Politiker von einer fast nicht mehr existierenden Partei geschürt.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Außenministerin   Annalena Baerbock und andere Kabinettsmitglieder sind mit der Flugbereitschaft der Bundeswehr zu Spielen der deutschen Nationalmannschaft geflogen. Das hat die Steuerzahler 531.000 Euro gekostet.

Was für ein Skandal! Der Bundeskanzler setzt sich nicht in einen ICE, um von Berlin nach Stuttgart oder München zu fahren. Nein, er nimmt den Flieger, um bei einigen Spielen der Europameisterschaft im eigenen Land dabei zu sein.

Anfrage bringt schlichte Gemüter in Wallung

In der dadurch einsetzenden Empörungswelle, ausgelöst durch eine Anfrage der kaum noch existenten Linkspartei, kommt alles zusammen, was schlichte Gemüter in Wallung zu versetzen mag: Zunächst einmal Neid auf „die da oben“, die an die begehrten EM-Tickets kommen und zudem einen Transport „de luxe“ genießen.

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Der Neid, ohnehin eine in Deutschland weit verbreitete Tugend, mischt sich mit einer zunehmenden Verachtung der Politiker. Selbst würden diese Kritiker sich niemals für unser Gemeinwesen engagieren. Aber denen, die das tun, missgönnen sie jeden damit verbundenen Vorteil.

Wer Politik grundsätzlich für ein schmutziges Geschäft hält, der wird die Tatsache nicht ernst nehmen, dass die Piloten bei Regierungsflügen zugleich einen Teil der Flugstunden absolvieren, die zum Erwerb oder Erhalt ihrer Fluglizenz notwendig sind.

Mit anderen Worten: Eine Flugstunde ohne ein Kabinettsmitglied an Bord wird nicht wesentlich billiger. Zugegeben, die Kosten für die Tasse Kaffee, die der Kanzler und seine Begleiter während des Flugs trinken, fallen bei „Leerflügen“ nicht an. Wer nach der Nadel im Heuhaufen sucht, wird hier fündig.

EM-Flüge als Akt der Höflichkeit

Wer sich darüber echauffiert, dass Regierungsmitglieder des gastgebenden Landes EM-Spiele besuchen, übersieht noch etwas: Es ist schlichtweg ein Akt der Höflichkeit, dass deutsche Regierungsvertreter hochrangige ausländische Regierungsvertreter oder Staatsoberhäupter bei ihren Stadionbesuchen in Deutschland begrüßen.

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Manche Zeitgenossen wollen sich partout nicht mit so altmodischem Zeug wie Höflichkeit aufhalten. Anderen wäre es „aus Prinzip“ lieber, Bundeswehrpiloten absolvierten ihre Flugstunden ohne Passagiere.

Wer freilich nicht so weit geht, einem EM-Boykott durch die Bundesregierung das Wort zu reden, müsste dann dafür plädieren, dass Kanzler und Minister sich im ICE durchs Land bewegten. Nun ja: Was manchmal großflächig wirkt, kann auch ganz kleines Karo sein.

Bahnfahren predigen und Flüge praktizieren?

Würden Scholz & Co. nur noch mit dem Zug fahren, hätte das zweifellos den Effekt, dass unsere Regierungsmitglieder am eigenen Leib erführen, in welch desolatem Zustand sich die Deutsche Bahn befindet. Nüchtern betrachtet wäre es aber reine Zeitverschwendung.

Kritik an der Vielfliegerei ist allenfalls unter dem Aspekt gerechtfertigt, dass die Glaubwürdigkeit von Spitzenpolitikern enorm leidet, wenn sie Bahnfahren predigen und Fliegen praktizieren.

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Das gilt insbesondere für die Außenministerin. In Baerbocks Partei denken unzählige Politiker darüber nach, wie man dem „Fußvolk“ das Fliegen vergällen könnte - über höhere Preise bis hin zu Verboten.

Baerbock hat nach einem Spiel in Frankfurt den Regierungsflieger bestiegen, um die 230 Kilometer kurze Strecke nach Luxemburg zurückzulegen. Dass das 47.000 Euro gekostet hat, ist eher nebensächlich. Viel schlimmer ist die von der Grünen zur Schau gestellte Doppelmoral.

Flugwut in sozialen Netzwerken ist kleinkariert

Gleichwohl: Die Flug-Wut, die sich in den sogenannten sozialen Netzwerken Luft jetzt verschafft, ist in höchstem Maße kleinkariert und zugleich erschreckend.

Hier offenbart sich eine gefährliche Einstellung: Politiker sollen 14 Stunden am Tag arbeiten, kaum etwas verdienen und auf jegliche Vorteile verzichten, die mit herausgehobenen Ämtern nun einmal verbunden sind.

Die Verlogenheit der Linken

Dass ausgerechnet die Linke diese Diskussion ausgelöst hat, zeigt deren Verlogenheit. Auch ihre Bundestagsabgeordneten genießen alle Privilegien, die mit dem Mandat verbunden sind: vom Steuerzahler finanzierte Linienflüge in der Business Class, die BahnCard 100 in der 1. Klasse und eine ansehnliche Altersversorgung, für die sie keinen Cent zahlen müssen.

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Machen wir uns nichts vor: Unsere Demokratie lebt von Männern und Frauen, die sich für uns alle engagieren. Das sind nicht nur Helden und Heilige. Aber in welchem Beruf begegnen wir ausschließlich selbstlosen Idealisten?

Doch eines ist sicher: Mit den Kleingeistern, die wegen der EM-Flüge „Skandal, Skandal“ rufen, wäre kein Staat zu machen - jedenfalls kein freiheitlicher.