Kommentar von Hugo Müller-Vogg - Noch höhere Abschläge für Frührentner: Diese krasse Experten-Idee ist eine große Chance
Der Wirtschaftsweise Martin Werding sorgt mit einem brisanten Vorschlag für Aufsehen: Er will den vorzeitigen Renteneintritt deutlich verteuern, um das marode Rentensystem zu retten. Er liegt richtig.
Ein Wirtschaftsweiser wie der Ökonomieprofessor Martin Werding hat im Vergleich zu Politikern einen unschätzbaren Vorteil. Er kann sagen, was er für richtig und notwendig hält – ohne Rücksicht auf Wähler, politische Gegner oder kritische Parteifreunde.
Dieses Privileg hat das Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) jetzt genutzt. Wer vorzeitig in Rente geht, dessen gesetzliche Altersbezüge sollen seiner Meinung nach künftig um fünf bis sechs Prozent gekürzt werden und nicht wie derzeit um 3,6 Prozent.
Renten-Abschläge sollen alle betreffen: Die unpopuläre Idee von Werding
Werding macht keinen Hehl daraus, warum er diesen zweifellos unpopulären Vorstoß unternimmt. Seine Begründung gegenüber der Funke-Mediengruppe: Wegen des Fachkräftemangels gelte es, „alle geltenden Regelungen zu überprüfen, die nach wie vor zu einem frühen Renteneintritt einladen. Dazu gehören die niedrigen Abschläge.“
Abschläge sollen es nach Werdings Vorstellung nicht nur für „Normalrentner“ sondern auch für die Bezieher der „Rente mit 63“ geben. Diese können aktuell abschlagsfrei zwei Jahre früher den Ruhestand genießen, wenn sie 45 Jahre lang Beiträge entrichtet haben. Denn abschlagsfreie Frührenten für gesunde Personen passten „angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels überhaupt nicht in die Landschaft“.
Den vorzeitigen Renteneintritt verteuern - ein umstrittener Vorschlag
Das Ziel des Ökonomen ist klar: Angesicht der Überalterung der Gesellschaft und des Fachkräftemangels soll der vorzeitige Ausstieg aus dem Arbeitsleben künftig mehr „kosten“ als heute. Man kann den von Werding geforderten höheren Abschlag als Strafsteuer kritisieren.
Allerdings war unter Rentenexperten schon immer umstritten, ob der Abschlag von 0,3 Prozent im Monat oder 3,6 Prozent pro Jahr versicherungsmathematisch korrekt ist oder aus politischen Gründen zu niedrig angesetzt wurde. Viele Ökonomen forderten schon früher einen Abschlag von 0,5 Prozent pro Monat, also 6 Prozent im Jahr, wie das Werding jetzt tut.
Da braucht man nicht lange herumzureden: Ein höherer Abschlag bei vorzeitigem Renteneintritt läuft auf eine Rentenkürzung hinaus. Allerdings wird ja niemand gezwungen, vor dem gesetzlichen Renteneintrittsalter – für den Jahrgang 1958 aktuell mit 66 Jahren – in den Ruhestand zu wechseln.
Die Verlängerung der Arbeitszeit scheint unvermeidlich
Was der damalige Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) bei der stufenweisen Einführung der Rente mit 67 feststellte, ist unverändert aktuell. Angesichts des demografischen Wandels „reicht Volksschule Sauerland, um zu wissen: Wir müssen irgendetwas machen“.
Die Politik hat viel gemacht, aber es reicht nicht. Das jüngste Rentenpaket der Ampel reicht allenfalls aus, um die Menschen bis zur Bundestagswahl 2025 in Sicherheit zu wiegen, mit der Rente werde schon alles irgendwie gut. Aber das wird so nicht eintreten, weil immer weniger Beitragszahler auf Dauer nicht immer mehr Rentenempfänger finanzieren können.
Rente mit 67: Länger arbeiten oder das System ändern?
Folglich läuft alles auf die Frage hinaus, ob wir das bestehende Rentensystem im Prinzip beibehalten wollen – mit ein paar Korrekturen hier und ein paar geringen Abschlägen dort. Oder wollen wir, dass die Menschen angesichts der deutlich gestiegenen Lebenserwartung länger arbeiten. Das wird nur möglich sein, wenn wir den vorzeitigen Ausstieg aus dem Arbeitsleben und aus dem Kreis der Beitragszahler für den Einzelnen teurer machen.
Der Einwand, viele Arbeitnehmer könnten nicht bis zur geltenden Altersgrenze durchhalten, weil sie schon vorher körperlich am Ende seien, zieht hier nicht. Wer aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten kann, der muss zu besseren Bedingungen als heute ausscheiden können. Aber es ist ein Unding, mit Verweis auf gesundheitlich Angeschlagene auch Kerngesunde vorzeitig in die Rente zu lassen.
Warum notwendige Rentenreformen vertagt werden
Kein Politiker der Ampel wird zugeben, dass wir ohne einschneidende Änderungen das Rentensystem an die Wand fahren – und zwar sehenden Auges. Denn alles, was die Zahl der Arbeitenden reduziert, verschlimmert die Schieflage. Schon die „Rente mit 63“ hat den Fachkräftemangel erhöht und die Rentenkasse belastet.
Der Vorstoß Werdings geht in die richtige Richtung. Doch vor den Wahlen wird keine Regierungspartei ihn sich zu eigen machen und ebenso wenig die CDU/CSU-Opposition. In der Rentenpolitik gilt nämlich noch mehr als auf anderen Politikfeldern: Wem die Medizin heute zu bitter ist, der muss sie morgen in höherer Dosierung zu sich nehmen.