Kommentar: Ist die „Letzte Generation“ eine kriminelle Vereinigung?
Razzien, Beschlagnahmung von Konten, Umleiten der Website: Der Staat schlägt gegen die Klimakleber zurück. Endlich, heißt es von den einen. Ein Skandal, sagen die anderen. Geht es nicht eine Nummer kleiner?
Ein Kommentar von Jan Rübel
Heute sind wir alle Juristen. Gestern war wir Nahostexperten, vorgestern Mustertrainer des FC Bayern München – also, ich wüsste, wo ich Thomas Müller spielen lassen würde: Natürlich im Tor! Das wäre der Überrumpelungseffekt schlechthin…
…heute aber erregt sich die Nation über das Für und Wider der Staatsaktionen gegenüber der „Letzten Generation“, also der Klimakleber. Denn die Münchener Generalstaatsanwaltschaft sieht den Verdacht einer kriminellen Vereinigung – das ist auf einer Stufe mit Ermittlungen gegen Gruppen des Organisierten Verbrechens, Drogenhändlerbanden und Mafia.
Dass irgendwann eine entschlossene Reaktion von staatlicher Seite kommen würde, war zu erwarten. Warum tatenlos zuschauen, wie tagtäglich justiziable Vergehen organisiert und umgesetzt werden? Strafbar war manche Aktion der „Letzten Generation“, trotz der gänzlichen Friedlichkeit in ihrem Vorgehen hat sie nicht nur den Zorn vieler im Stau Stehenden auf sich gezogen, sondern muss sich auch die moralische Frage stellen, ob sie wirklich in der Lage ist, bei jeder ihrer Straßenblockaden dafür zu sorgen, dass medizinische Notfälle ohne Zeitverzögerung durchkommen. Ich habe da meine Zweifel. Anstelle der „Letzten Generation“ würde ich an einigen Stellschrauben drehen.
Was erwarten die eigentlich?
Sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen, das war also das Motto der Politik und der Justiz, die allerdings längst nicht so eindeutig in der Einschätzung der „Letzten Generation“ ist, wie man meint. Und ich bin kein Jurist, Thomas Müller würde es bestätigen. Was ich aber weiß: Die Reaktionen der Staatsanwaltschaft und der Polizei sind hoffnungslos überzogen.
Was die „Letzte Generation“ macht, ist komplett transparent. Sie kündigt ihr strafwürdiges Tun an und macht nicht mehr. Die Spenden, welche die Aktivisten einsammeln, sind einseh- und nachvollziehbar. Was verspricht sich also die Polizei davon, Konten zu beschlagnahmen? Klimakleber haben, anders als die Mafia, nichts zu verbergen. Dass aber insinuiert nun die Polizei, indem sie völlig unnötige Razzien durchführt, im Morgengrauen bekannte Aktivisten der Gruppe aus ihren Betten holt und deren Wohnungen durchsucht. Wonach eigentlich? Es würde mich sehr überraschen, wenn bei diesen für den Staat recht kostspieligen Maßnahmen nur ein Jota an Hinweis auf irgendetwas an den Tag träte. Die Polizei ging gar einen Schritt weiter und erklärte die „Letzte Generation“ sogleich zur kriminellen Vereinigung – das las jedenfalls, wer die offizielle Website der Gruppe ansteuerte. Ein Fehler, den die Polizei rasch korrigierte, aber dennoch peinlich – denn bisher hat die Justiz lediglich den Verdacht einer kriminellen Vereinigung formuliert.
Für alles gibt es ein Maß
Ob die „Letzte Generation“ eine ist, muss geklärt werden. Sowas ist den deutschen Gerichten anzuvertrauen, und das kann man auch. Aber dazu braucht es nicht dieser Razzien, Kontenbeschlagnahmungen und Websiteumleitungen – die sind bestenfalls cringe und schlimmstenfalls ein Angriff auf den Rechtsstaat und die Demokratie selbst.
Dass die Staatsanwaltschaft ermittelt, ist übrigens nicht zu kritisieren. Die „Letzte Generation“ braucht darüber an sich keine Krokodilstränen vergießen. Sie geht prinzipiell den Weg des zivilen Ungehorsams, nimmt organisiert Gerichtsverfahren in Kauf – da stellt sich irgendwann die Frage nach einer kriminellen Vereinigung – mit einer absolut offenen und noch ausstehenden Antwort. Daher sind auch die Vergleiche, welche Anhänger der „Letzten Generation“ nun ziehen, falsch: Es ist völlig unerheblich und bedeutungslos für diesen Kontext, ob Neonazi-Webseiten noch zugänglich sind oder nicht, ob es eine Razzia bei der FDP wegen ihrer Klimaverweigerung geben soll oder nicht. Vergleiche führen hier nur ins Nirwana des Whataboutism.
Aber das Maß ist zu halten. Dies ist der Münchener Justiz entglitten.
Und die Politik sollte jetzt nicht applaudieren. Wenn es ihr darum geht, den unbequemen Fragen der Klimaaktivisten auszuweichen, indem man sie mit Dreck bewirft, sie in eine Schublade mit Dieben, Räubern und Betrügern steckt, dann ist dies ein ziemlich mieser Move. Besonders, wenn man schaut, was diese Bundesregierung gerade eigentlich vorhat, gegen den Klimawandel.