Kommentar: Jens Spahns neuester "Alarmruf" ist ganz groß - zumindest gefühlt

Jens Spahn hat mal wieder ein neues Thema für sich entdeckt (Bild: Reuters)
Jens Spahn hat mal wieder ein neues Thema für sich entdeckt (Bild: Reuters)

Der CDU-Politiker mahnt diesmal Recht und Ordnung an. Gut, dass wir darüber gesprochen haben.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Jens Spahn wäre gewiss ein strenger Lehrer. Da hageln Fünfen und Sechsen im Minutentakt. Neuestes Opfer: der Staat an sich. “Die Aufgabe des Staates ist es, für Recht und Ordnung zu sorgen. Diese Handlungsfähigkeit war in den letzten Jahren oft nicht mehr ausreichend gegeben”, klagte der Gesundheitsminister im Interview mit der “Neuen Zürcher Zeitung”. Jeder Steuerbescheid komme pünktlich beim Bürger an, “aber bei Drogendealern, die von der Polizei zum zwanzigsten Mal erwischt werden, scheinen die Behörden oft ohnmächtig”.

Nicht ausreichend – das ist ein Mangelhaft. Lehrer Spahn lässt uns ergo eine Ehrenrunde drehen. Zeit, über Sinn und Unsinn jenes Politikers nachzudenken, der sich eigentlich um mehr Patientengerechtigkeit kümmern sollte, aber seltsamerweise immer wieder Zeit findet, sich um ganz Deutschland zu kümmern, als wolle er den Verkehr regeln; aber ich vergaß: Deshalb kam er ja ins Kabinett, Kanzlerin Angela Merkel (CDU) musste diesen verbalen Quälgeist “einbinden”.

Das Phänomen mit den Drogendealern, die immer wieder an ihrer “Stelle” stehen, ist in fast jeder Stadt zu beobachten. Tatsächlich scheint die Polizei ohnmächtig und ich gestehe ein, keine schnelle Lösung parat zu haben. Ich bezweifle auch, dass Spahn eine hat. Aber egal, Spahns Aufgabe ist die Rolle der Kassandra, die in alle Himmelsrichtungen kräht, Hauptsache: sie kräht.

Wild würfeln macht Laune

Jedenfalls erscheint mir die Verwicklung des Straßenhandels von Drogen mit pünktlichen Steuerbescheiden abenteuerlich – als würden die Polizisten nicht die Gangster wegsperren, weil sie mit dem Eintüten unserer Steuerbescheide beschäftigt wären. Außerdem denke ich, dass das Problem der Drogenkriminalität, so schlimm sie ist, einen kleineren Missstand darstellt, als wenn die Bürger tatsächlich nicht rechtzeitig ihren Steuerbescheid bekämen. Immerhin beruht unsere Gesellschaft auf der Solidarität, und die Steuern sind hierfür ein wichtiges Instrument; es wirkt nur, wenn es genau, schnell, effizient und transparent ist. Würde der Staat hier schludern, dürfte Spahn zu Recht Schnappatmung ereilen.

Was also will er uns diesmal sagen? Wie können wir ihm folgen?

Spahns “Alarmruf”: “Zumindest die vernünftigen Sozialdemokraten erkennen, dass auch sie massiv an Vertrauen verloren haben. Schauen Sie sich doch Arbeiterviertel in Essen, Duisburg oder Berlin an. Da entsteht der Eindruck, dass der Staat gar nicht mehr willens oder in der Lage sei, Recht durchzusetzen.”

Bonanza für alle

Verstehe. Spahn redet über jene Viertel, in die er seit Jahren keinen Fuß zu setzen scheint. Abgesehen davon, dass das Amt des Bundesinnenministers seit vielen Jahren von der Union besetzt wird und somit Spahns eigene Partei für die Note 5 verantwortlich wäre, wird seit Jahren in den Brennpunktvierteln, die es natürlich gibt, eine Wildweststimmung herbeigeschrieben, die es natürlich nicht gibt. Kein Kiez in Deutschland verwildert.

Die “Bild”-Zeitung, die Spahns Interview groß ausweidet, hat die Stoßrichtung sofort verstanden, sie setzt die Spahnschen Worte fort: “Tatsache ist: Rund ein Drittel der Deutschen hat Angst, Opfer von Verbrechen zu werden.”

Es geht also um die TATSACHE, dass es ein GEFÜHL gibt. Das Boulevardblatt erklärt in einem Satz Fakten zu gefühlten Fakten, das ist in etwa die Quadratur des Kreises oder die Beförderung eines Beinbruchs zum Totenschein.

Was die Verbrechen angeht, fällt mir eine Anekdote aus einem dieser so genannten Viertel ein: Ein Freund von mir schlenderte abends mit einer Freundin durch Berlin-Neukölln, als sie von einem angetrunkenen Mann zuerst angemacht, dann bedroht wurden. Ein Wort ergab das andere, und plötzlich zückte der Mann ein Messer, zum Glück nur zum Angeben. Man trennte sich, meine Freunde gingen sofort zum nächsten Polizeirevier, wollten Anzeige erstatten.

Der Beamte hatte dazu sichtlich keine Lust. “Dafür schicken wir keine Kollegen raus”, meinte er, “was meinen Sie, was bei uns los ist. Es ist doch nachts.”

Null Bock gibt es auch mal

Was der Polizist sagte, gibt scheinbar Spahn und allen Alarmrufern recht. Übrigens, ich vergaß, vielleicht dachte ich, für diese Pointe sei diese Information nicht notwendig, ist es auch nicht, jedenfalls sind alle drei Beteiligten, meine beiden Freunde und der Täter, Menschen mit einer so genannten Einwanderungsbiografie.

Ich bin mir sicher: Dieser diensthabende Polizist hatte einfach keine Lust. Er verweigerte die Arbeit, weil ihm danach war. Nicht, weil er oder die Polizei überlastet gewesen sei. Vielleicht dachte er auch, dass ein Streit zwischen drei Kameltreibern den Aufwand einer weißhäutigen Aktion nicht wert ist. Der Polizist bediente das Narrativ einer nicht mehr kontrollierten Straße – und dies ist ein gefühlter Fakt, kein ECHTER Fakt. Dafür muss man sich nur in diesen Straßen, von denen immer die Rede ist, nur bewegen. Und mit anderen Polizisten sprechen, die ihren Dienst ernst nehmen – und die sind in der überwältigenden Mehrheit.

Kommen wir also nun zu den Fakten. Die Polizeiliche Kriminalstatistik führt genau Buch über die Verbrechen in Deutschland, vor denen wir Angst haben. Sie vermittelt ein gemischtes Bild. Die Anzahl der Gewaltverbrechen ist gestiegen, aber nicht rasant. Auch politisch motivierte Kriminalität gibt es mehr, aber das ist nicht jene, vor der sich Otto Normalverbraucher fürchtet, der hat mehr Delikte wie Wohnungseinbrüche und Diebstähle im Blick – und diese sind allesamt zurückgegangen. Es bleibt also viel zu tun für unsere Polizei. Aber in den Wilden Westen hat sich Deutschland nicht verwandelt.

Vielleicht sollte Spahn sich doch endlich die Akten mit der Patientengerechtigkeit auf den Tisch legen lassen und mit der Arbeit beginnen.