Kommentar von Kishor Sridhar - Leadership-Profi: Schafft endlich den Begriff Migrationshintergrund ab!

Lisa Paus<span class="copyright">Clemens Bilan - Pool/Getty Images</span>
Lisa PausClemens Bilan - Pool/Getty Images

Im Familienministerium von Lisa Paus (Grüne) wird über den Begriff Migrationshintergrund beraten. Höchste Zeit, findet Führungsexperte Kishor Sridhar, denn der Begriff sei rassistisch und diskriminiere Millionen von Menschen. Auch ein längerer Ersatz-Begriff steht im Raum.

Im neuen Jugendbericht des Bundesfamilienministeriums wird unter anderem gefordert, auf die Bezeichnung Migrationshintergrund zu verzichten. Endlich! Kann ich nur sagen, denn es ist etwas, was Soziologen und viele Betroffene, wie ich, schon längst fordern. Der Begriff Migrationshintergrund erklärt nichts und schafft nur Ausgrenzung und Diskriminierung.

Begriff „Migrationshintergrund“ schafft Menschen zweiter Klasse

Vor rund zwei Wochen flog ich mit meiner Familie in den Urlaub. Neben mir saß Sena, eine junge Frau ebenfalls auf dem Weg in den Urlaub in die Türkei, also in jenes Land, aus dem einst ihre Großeltern nach Deutschland gekommen waren. Sena studiert derzeit Deutsch und Philosophie auf Lehramt. Wir unterhielten uns über Seneca (ihrem Lieblingsphilosophen), über Marc Aurel, Karl Popper (meinen Lieblingsphilosophen) und Dürrenmatt (hier konnten wir keine Basis finden). Einig waren wir uns aber schnell, als wir über die Klassifizierung von Menschen und den Begriff Migrationshintergrund zu sprechen kamen. Für uns ist der Begriff Migrationshintergrund im höchsten Maße rassistisch, grenzt aus und markiert ein Anderssein eines großen Teils der Bürger und Deutschen in diesem Land.

Ja, Menschen wie Sena oder ich sehen nicht so aus, wie man sich einen Deutschen in den 60er-Jahren vorstellte, aber wir sprechen die deutsche Sprache, lieben sie oft sogar und sind in diesem Land aufgewachsen.

Als Kind habe ich schon Rassismus und Ablehnung erfahren. Doch damals war ich noch naiv und glaubte, dass ich wie alle anderen Deutschen sei. Ich müsste nur gut in der Schule sein und auf meine Sprache achten. Als Kind war mir die Absurdität nicht bewusst, dass ich in dem Land, in dem ich geboren bin, mich anstrengen musste, um „wirklicher“ Deutscher zu sein.

Doch dann tauchte eines Tages der Begriff Migrationshintergrund auf. Und da wusste ich, dass ich verloren hatte. Ich konnte mich anstrengen, wie ich wollte. Ich würde nie wirklich Deutscher sein, sondern immer Deutscher zweiter Klasse bleiben: ein Deutscher mit Migrationshintergrund.

Der Begriff Migrationshintergrund erklärt gar nichts

Mein Vater ist 1959 als Student nach Deutschland gekommen. Er lebt in diesem Land länger als die meisten AfD-Wähler. Einmal bekam ich im Fach Deutsch eine 2- statt einer 3+. Der Lehrer merkte an, dass er mir die bessere Note wegen meines Migrationshintergrunds gegeben habe. Mein Vater ist am nächsten Tag in die Schule gegangen und hat die Note korrigieren lassen, zu dem, was ich verdient hatte, mit dem Hinweis, wir brauchen keine Sonderbehandlung. Am Abend erklärte er mir, dass ich immer engagierter, besser und härter arbeiten müsste als andere, um hier angenommen zu werden. Der Begriff Migrationshintergrund hat dies offiziell gemacht.

Sena, die angehende Lehrerin aus dem Flugzeug, ist eine Generation jünger als ich und dennoch hatte sie Ähnliches erlebt. Im Gymnasium schnitt sie in ihrem Bereich als Beste ab und wurde besonders gelobt, weil sie ja einen Migrationshintergrund habe. Nett gemeint, sagte sie, aber nicht das, was sie wollte. Ihre Großeltern waren nach Deutschland gekommen. Ihre Eltern sind hier aufgewachsen, haben als einfache Arbeiter das Beste für ihre vier Töchter erreicht, die alle inzwischen studieren oder studiert haben. Wieso wurde sie, die schon immer hier war, besonders gelobt, trotz ihres Migrationshintergrunds gut in der Schule zu sein?

Der Begriff Migrationshintergrund verfälscht nicht nur Biografien, er hilft auch überhaupt nicht, irgendetwas zu erklären. Senas und meine Geschichte sind ähnlich und doch so unterschiedlich, wie sie nur sein können. Und das gilt für viele andere ebenso. Welchen kulturellen Hintergrund bringen die Menschen oder deren Eltern mit und wie empfinden sie? Sind sie Diplomatenkinder, Nachfahren von Gastarbeitern, Studenten, Flüchtlinge? So viele soziodemografisch unterschiedliche Gruppen werden in einen Topf geworfen.

Wieder Cancel-Culture und Sprachverbot?

Deswegen sollten wir den Begriff Migrationshintergrund abschaffen, und zwar sofort, zumal er rassistisch ist, wie wir gleich noch sehen werden. Schon wieder ein Sprechverbot? Wieder Cancel-Culture? Erst kein Zigeunerschnitzel mehr und nun das? Nun denn, dann lassen Sie uns doch über die „Eingeborenen“ von Luckenwalde reden oder über die Stammesrituale der indigenen Völker Bayerns. Das ist herabsetzend und entwürdigend? Eben, deswegen nutzen wir solche Begriffe auch nicht und sollten genauso wenig den Begriff Migrationshintergrund verwenden. Zumal dieser Begriff künstlich geschaffen und eingeführt wurde. Genauso schnell kann man ihn wieder verschwinden lassen.

Sahra Wagenknecht ist KEINE Deutsche mit Migrationshintergrund

An wen denken Sie, wenn es um den Migrationshintergrund geht? Den Sohn eines Dänen, die Tochter eines Polen? Den DDR-Bürger, der vor der Wende in die BRD übergesiedelt ist?

Laut Definition bei Wikipedia ist man eine Person mit Migrationshintergrund bis zur zweiten Generation. Sprich: die Eltern sind eingewandert. Alles davor zählt nicht. Wirklich? Menschen wie Sena sind in der dritten Generation. Ja, ihr Name ist nicht deutsch – übrigens ebenso wenig wie die Namen Enrico, Mia oder Mandy und auch nicht Sarrazin oder Chrupalla.

Der Name macht es also nicht wirklich. Es ist die Hautfarbe. Deswegen kann ich mich in Christoph Meyer umbenennen und bleibe doch der mit dem Migrationshintergrund. Sahra Wagenknechts Vater ist Iraner. Niemand bezeichnet sie als Deutsche mit Migrationshintergrund. Im Gegensatz zu Menschen wie Sena oder mir, sieht Frau Wagenknecht nicht „anders“ aus. Doch welchen RAL-Farbton muss man denn haben, um wirklich deutsch zu sein und diesen lästigen Migrationshintergrund für immer abzulegen? Frau Wagenknecht scheint bleich genug dafür.

Seien wir also mal ehrlich: Migrationshintergrund = Hautfarbe. Meine Frau ist Russin. Sie hat mit achtundzwanzig Jahren mir zuliebe ihren guten Beruf und ihre Heimat in Russland verlassen und ist hierhergezogen in meine Heimat Deutschland. Als russischer Phänotyp ist sie integrationskompatibel. Obwohl sie Deutsch mit einem Akzent spricht, ist sie oft akzeptierter als ich. Ausgrenzungen hat sie nur erfahren, wenn ich dabei war. Von unseren vier Kindern sind zwei hellhäutig und haben dunkelblonde Haare, zwei sind südländisch vom Aussehen. Alle haben nicht-deutsche Namen.

Was meinen Sie, wer sich hier integriert fühlt und wer nicht? Unser Ältester ist 18 Jahre alt – jener mit den dunkelblonden Haaren ist hier komplett angekommen und angenommen, während seine südländisch aussehende Schwester spürt, dass sie nicht vollständig dazugehört in die deutsche Gesellschaft. Und inzwischen will sie das auch gar nicht mehr. Darf man ihr das verübeln?

Wer ausgegrenzt wird, sucht sich einen anderen Weg

Worte formen das Denken eines Einzelnen und dann einer ganzen Gesellschaft. Da ist es naiv zu denken, eine leichtere Einbürgerung würde Menschen eher das Gefühl geben dazuzugehören. Der Begriff Migrationshintergrund stellt eine unüberwindbare Barriere, und wenn eine Barriere nicht überwunden werden kann, dann gehen Menschen eben einen anderen Weg.

Wenn bei türkischen Länderspielen in deutschen Stadien Menschen „Türkije, Türkije“ skandieren, wird sich oft echauffiert, dass diese Menschen, die hier leben, sich mit der Türkei identifizieren. Doch hier sind sie nur jene mit Migrationshintergrund; in der Türkei gehören sie dazu und sind keine Türken mit Auswanderungshintergrund.

Wir wundern uns, dass junge Menschen, die in dieses Land gekommen sind, sich dem Islam zuwenden. Im Islam braucht es nur das Glaubensbekenntnis, und man gehört dazu, unabhängig von Hautfarbe oder Herkunft. Es gibt keinen Muslim zweiter oder dritter Generation. Um aber in Deutschland angenommen zu werden, reicht es nicht, selbst in der dritten Generation hier zu sein und das Grundgesetz auswendig zu kennen.

Die Diskriminierung ist auch im Beruf messbar

In deutschen Unternehmen werden Menschen wie ich ohne weiteres von den meisten respektiert und akzeptiert für unsere Leistung. Dennoch ist der Anteil der Führungskräfte mit internationaler Herkunft, deutlich geringer als deren Anteil an der Bevölkerung. Dabei haben gerade jene, die sich hier anpassen und durchsetzen mussten, mehrere Sprachen sprechen, deutlich bessere soziale Kompetenzen und sind oft leistungsbereiter, weil sie wissen, dass sie sich mehr als andere beweisen müssen.

In einem Versuch der Gesellschaft gegen Alltagsrassismus zeigte sich 2022, dass Wohnungsbewerber mit arabischen Namen 50 Prozent weniger Antworten auf Wohnungsbewerbungen erhalten haben als jene mit klassisch deutschen Namen. Die Bosch-Stiftung zeigte, dass Bewerber mit türkischem Nachnamen bei exakt gleicher Qualifikation deutlich häufiger keine Antwort oder Absagen erhielten als Bewerber mit deutschem Nachnamen.

In Großbritannien hatte der Premierminister Rishi Sunak indische Wurzeln, ebenso wie der irische Staatschef Leo Varadkar. Stellen wir uns mal vor, der CDU-Spitzenkandidat hätte türkische oder arabische Wurzeln. Unvorstellbar, denn hier diskutieren wir über die zweite und dritte Generation mit Migrationshintergrund.

Die unerwünschten Stiefkinder Deutschlands sind keine Einzelfälle

Der Begriff Migrationshintergrund stigmatisiert genauso wie „Stiefkind“. Zwar ein Kind, aber nicht wirklich dazugehörig. Doch wir gehören hierher. Nicht nur Sena, sondern auch Mohammed, der ADAC-Mitarbeiter, der 2015 aus Syrien kam, David, Sohn vietnamesischer Eltern, der noch nie in seinem Leben in Vietnam war, ebenso wie Farouq, der Unternehmensberater, Aysha, die Mitarbeiterin im Münchner Jugendreferat, oder mein Vater, dessen Erfindungen in der chemischen Industrie zu 38 Patenten führten. Alles Menschen, die hier leben und unsere Gesellschaft tragen.

„Einzelfälle“, höre ich dann gelegentlich von AfD-nahen Mitbürgern. Es ist interessant, wie Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen von Bürgern, zu Einzelfällen deklariert werden und rund ein bis zwei Dutzend verachtenswerte Messerstecher zum Massenphänomen. Nein, Menschen wie wir sind das Massenphänomen, wir sind die Normalität. Dennoch fördert genau der Begriff Migrationshintergrund die Ausgrenzung von Menschen wie uns.

Diese Bezeichnung sollten wir statt Migrationshintergrund verwenden

Der deutsche Soziologe Aladin El-Mafaalani befragte zahlreiche Personen mit einer anderen Herkunftsgeschichte, und der Begriff, mit dem sich alle wohlfühlten, war „Menschen mit internationaler (Familien-)Geschichte“. Seitdem spreche ich gezielt Leute an; machen Sie das ruhig auch und versuchen Sie, diesen Begriff zu verbreiten – mit durchweg positiven Erfahrungen.

Wieso? Migrationshintergrund bedeutet: Eigentlich kommst du von außen, gehörst nicht hierher. Internationale Geschichte zeigt, dass du noch etwas Gutes hinzufügst. Der Begriff ist bereichernd und nicht ausgrenzend. Gut, einige Deutsche, die keine internationale Geschichte haben, mögen dann das Gefühl haben, dass ihnen etwas fehlt. Aber das können sie ja aufholen, indem sie selbst ein wenig die Welt bereisen.

Und selbst wenn Sie das alles überflüssig finden und weiter an dem Begriff Migrationshintergrund festhalten wollen, dann denken Sie daran, dass es Menschen wie Sena sind, die inzwischen ihren Kindern in der Schule die schöne deutsche Sprache unterrichten. Das ist die Realität. Auf wen das jetzt irritierend wirkt, der sollte sich hinterfragen, woran das liegt. Ich freue mich auf eine offene Diskussion.