Kommentar von Landry Charrier - Macron hat die Rechten ausgebremst, aber Frankreichs V. Republik ist am Ende

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Nach der Parlamentswahl in Frankreich: Was macht Macron jetzt?Mohammed Badra/EPA POOL/AP/dpa

Landry Charrier, Experte für deutsch-französische Beziehungen, erklärt Höhen und Tiefen des „Macronismus“ und dessen Auswirkungen auf die französische Politiklandschaft. Die große Frage ist: Was kommt nach dem Macron-Knall als Nächstes für Frankreich?

Ist der Macronismus gescheitert?

Es kommt darauf an, was Sie unter dem Begriff verstehen und zu welchem Zweck Sie ihn verwenden. Die Franzosen können sprachlich besonders kreativ sein, wenn es darum geht, ihren Präsidenten zu bezeichnen – und an der Stelle ist Frankreich Deutschland weit überlegen (viel mehr als „herumscholzen“ gibt es trotz der vielfach an Scholz geäußerten Kritiken nicht).

„Chiraquie“, „chiraquissme“, „Sarkozette“ (weibliche Ministerin unter Staatspräsident Sarkozy), „Sarkozyte“ (eine besondere Art von Müdigkeit), „Hollandandes“ (Selbstironie) – die Liste der Begriffe, die die Amtszeiten Macrons Vorgänger geprägt haben, ließe sich beliebig fortsetzen. Nur, bei ihm scheint das Phänomen einen Höhepunkt erreicht zu haben, nicht zuletzt, weil die Extremisten – ob links oder rechts – das destruktive Potential, die eine Sprache bieten kann, voll ausnutzen und so die Figur des Präsidenten zu einem regelrechten Hassobjekt machen konnten.

Das Ziel: die Mitte mit Macron gleichzusetzen und sie unwählbar zu machen. Es kommt nicht von ungefähr, dass Édouard Philippe, sein ehemaliger Premierminister (2017-2020) und möglicher Nachfolger – Philippe ist schon lange der beliebteste Politiker Frankreichs – sich am 20. Juli lautstark von ihm distanzierte. Macron hatte ihm im Sommer 2023 den Ritterschlag gegeben: Philippe sei durchaus in der Lage, „den Staffelstab zu übernehmen“, hatte der Präsident im Gespräch mit TF1 gesagt (25.07.23). Doch heute ist klar: Wer weiterkommen will, darf nicht mit Macron ins Verhältnis gebracht werden.

Was soll man also unter dem Begriff Macronismus verstehen?

Eine andere Art, Politik zu machen, jenseits des Links-Rechts-Schemas, das sich in der Französischen Revolution etabliert hat. Emmanuel Macron ist nicht der erste, der diesen Versuch unternimmt: Bereits zu seiner Zeit hatte Staatspräsident Nicolas Sarkozy ähnliche Ambitionen verfolgt und mit Jean-Louis Borloo, Bernard Kouchner und Hervé Morin drei Persönlichkeiten bzw. Politiker geholt, die der Präsidentenmehrheit nicht angehörten. Sein Motto: Er wolle die besten aus allen Lagern in der Regierung haben. Macron hat diese Praxis auf die Spitze getrieben.

Mit seiner Entscheidung, das Parlament aufzulösen, hat der Präsident sein eigenes Ende eingeläutet. Das Projekt, für welches er stand – das, was gerne unter dem Begriff „Macronismus“ subsumiert wird – lebt aber weiter. Philippe, der im Herbst 2021 eine eigene Partei gründete („Horizons“), mit dem Ziel, „ein neues politisches Angebot“ zu schaffen, verkörpert genau diese Linie.

Unter dem Eindruck der sich überschlagenen Ereignisse (die nichts anderes als eine Systemkrise sind) ist der einst Bürgerlich-Konservative sogar einen Schritt weiter gegangen: Es sei jetzt an der Zeit, eine breite Koalition zu bilden, die alle kooperationsbereiten und proeuropäischen Kräfte umfasst, von den Nicht-Ciottisten bis hin zu den dem Erbe Mitterrands treu gebliebenen Sozialisten. Auch Marine Tondelier (37), die Chefin der Grünen und neue Hoffnungsträgerin der gemäßigten Linken, hat darauf hingedeutet, sie sei der Idee nicht abgeneigt.

Wer aber das französische System kennt, weiß: Das wird eine große Herausforderung sein

Ja, denn das französische System ist überhaupt nicht darauf angelegt. Umfragen zeigen zwar schon lange, die Franzosen lehnen in ihrer Mehrheit das klassische Links-Rechts-Schema ab, doch in der Praxis gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen den Parteien nach wie vor als äußerst kompliziert. Zusammenzuarbeiten bedeutet kompromissbereit zu sein und in Frankreich ist Kompromiss Synonym für „sich kompromittieren“.

Macron musste es bei den hitzigen Verhandlungen über die Rentenreform am eigenen Leib erfahren. Nachdem Premierministerin Élisabeth Borne den Konservativen entgegengekommen war, weigerten sie sich auf einmal der Unterstützung – aus einem Grund, der angesichts der Position, die sie in den Jahren zuvor vertreten hatten, überhaupt nicht nachvollziehbar war.

Die Überraschung war um es größer, als der von den Konservativen dominierte Senat wenige Tage (10. März 2023) zuvor die Reform gebilligt hatte: „Wir sind dafür, weil diese Reform unsere Reform ist“, hatte Bruno Retailleau zur Entscheidung seine Partei gesagt. Daraufhin musste Borne wieder einmal die „dicke Bertha“ zum Einsatz bringen, den berühmt-berüchtigten Artikel 49.3, der es der Regierung erlaubt, unter Umgehung einer Abstimmung durch das Parlament ein Gesetz durchzubringen.

Der Rassemblement National verfehlte gestern sein Ziel. Kam das überraschend?

Die Franzosen haben gestern gezeigt, sie sind nicht bereit, dem RN eine absolute Mehrheit zu geben. Was nach dem ersten Wahlgang möglich schien, konnte also noch in der letzten Minute abgewendet werden, und das vor allem aus zwei Gründen.

Die in der jüngsten Vergangenheit immer wieder für tot erklärte „republikanische Front“ hat gehalten und das, trotz erheblicher Divergenzen bezüglich der Positionierung der jeweiligen Parteien gegenüber der Linksradikalen von La France Insoumise. Hinzu kommt, dass der RN in zahlreichen Wahlkreisen – mindestens 25 Prozent laut gut informierter Journalisten – Kandidaten aufgestellt hat, die Hakenkreuz-Zeichen tragen, von einem „bereinigten Frankreich“ schwärmen, Pétain nachtrauern oder Putin-Bewunderer sind. Einige davon sollen sogar auf Einladung Moskaus beim Krim-Referendum als internationale Beobachter gedient haben.

Ihre stark mediatisierten Entgleisungen haben auf einmal deutlich gemacht: Der RN mag zwar von sich behaupten, er sei eine Partei wie alle anderen, in der Breite hat sie sich aber nicht verändert. Die Normalisierung ist nur Fassade, die Vergangenheit noch sehr präsent. Bardellas Ankündigung, er wolle im Falle eines Wahlsiegs seiner Partei Franzosen mit doppelter Staatsangehörigkeit von wichtigen Staatsposten ausschließen, bestätigte es: „einen Beiklang von Vichy“, schrieb die israelisch-französische Soziologin Eva Illouz vor wenigen Tagen unter Verweis auf die Jüdischen Gesetze aus dem Jahr 1940.

Was folgt daraus?

Auf die Spitze getrieben könnte man sagen: Wenn Macron dies bei seiner Entscheidung einkalkuliert hat, hat er zumindest hier seine Wette gewonnen. Denn für viele ist klar geworden: Der RN verfügt bei weitem nicht über das Personal, um sich breitbeinig aufzustellen. Bis zu den Kommunalwahlen 2026 ist es zwar noch eine Weile hin, doch das dürfte nicht ausreichen. Der Kult des Chefs ist im RN, ähnlich wie in allen rechtsextremistischen Parteien, „Fluch und Segen“ zugleich.

Segen, weil das charismatische Führungskader, Le Pen und Bardella, es vermag, so viele Franzosen wie noch in seinen Bann zu ziehen; Fluch, weil die Konzentration auf wenige Persönlichkeiten viele Ressourcen verbraucht – gerade die Ressourcen, auf die die Partei angewiesen wäre, um sich überall, wo es notwendig wäre, zu etablieren. Fréjus und Hénin-Beaumont, vormals eine Bastion der Kommunisten, heute Le Pens politische Heimat – sind hier nur Ausnahmen.

Ein Grund, sich zu freuen?

Ja und nein, denn damit ist die Arbeit längst nicht getan. Der Warnschuss war diesmal viel zu laut, als dass man ihn überhören dürfte. Die Art des Regierens muss sich jetzt grundlegend ändern. Von allen Präsidenten der 5. Republik hat Macron am stärksten versucht, dem Amt wieder eine gaullistische Gravitas zu verleihen. Er hat die Macht weiter zentralisiert, die Regierung nicht näher an die Bevölkerung gerückt – im Gegensatz zu dem, was er immer wieder versprochen hatte –, das Parlament nicht reformiert, die Politik noch mehr auf seine Person konzentriert.

Das verstärkte den Frust, das Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden – vor allem in der Province –, und war am Ende Wasser auf den Mühlen der Extremisten. Auch das ist eine Lehre aus der Krise, die das Land aktuell durchmacht: Frankreichs V. Republik ist am Ende.