Kommentar von Mediziner Nawroth - „Iss gesund, nutzt wenig“ - wie Sie wirklich das Demenz-Risiko verringern können
Ist Ernährung wirklich der Schlüssel zur geistigen Gesundheit? Peter Paul Nawroth, Spezialist für Innere Medizin, ist anderer Meinung. Er sagt, was wir aus seiner Sicht für uns und unsere Angehörigen tun können, wenn es um die Verringerung des Demenz-Risikos geht.
Viele Menschen sorgen sich, ob sie einmal an Demenz erkranken werden. Daher wird jede frohe Botschaft gierig aufgesaugt, vor allem, wenn es einfach, praktisch umsetzbar und erfolgreich klingt.
In einer Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) vom 9. Juli 2024 steht, dass 40 Prozent aller Demenzfälle und 90 Prozent aller Schlaganfälle vermeidbar wären. Insbesondere Präventionsmaßnahmen zur Gesunderhaltung des Gehirns würden hierbei eine wichtige Rolle spielen, etwa ein gesunder und aktiver Lebensstil mit ausreichend Bewegung und Schlaf sowie der Vermeidung von schädlichen Substanzen wie Alkohol, Nikotin, anderer Drogen und Schadstoffen. Peter Berlit, Generalsekretär und Pressesprecher der DGN, erklärt zudem, dass es sich oft lohne, Zucker zu reduzieren, da viele der vermeidbaren Fälle von Demenz und Schlaganfälle auch auf das Konto von Industriezucker gingen.
Aber kann man das tatsächlich so sagen? Da auf meine Anfrage die Fachgesellschaft keine Antwort gab, muss ich mich auf die in der Pressemitteilung genannten Studien und eine eigene Literaturrecherche, sowie eigene Arbeiten zu dem Thema beziehen. Meine Ergebnisse:
1. Meinen die in der Pressemitteilung zitierten Experten wirklich „verhindern“?
Es gibt keine Studie, in der eine Lebensstiländerung, einschließlich Ernährungsumstellung, beweist, dass Schlaganfälle oder Demenz verhindert werden können. Verhindern würde bedeuten: Sie treten im Laufe des Lebens nicht mehr auf. Also sollte man bestenfalls von zeitlicher Verzögerung sprechen. Doch um wie viel Zeit geht es hier? Dazu gibt es keine Daten! Und selbst wenn man länger lebt: Lebt man wirklich länger selbstständig und frei von Pflegebedürftigkeit? Woran erkrankt man dann, wenn 40 Prozent aller Demenzfälle und 90 Prozent aller Schlaganfälle verhindert wurden? Dazu fehlen Studien.
2. Die Global Burden of Diseases, Injuries and Risk Factors Study (GDB Study)
In der GDB Studie wird berichtet, dass nicht übertragbare Erkrankungen 73,4 Prozent aller Todesfälle verursachen. Übertragbare Erkrankungen, dazu zählen auch ernährungsbedingte Erkrankungen, machen 18,6 Prozent der Todesfälle aus. Fazit: Die GDB-Studie erlaubt nicht die Aussage, dass 40 Prozent der Demenzerkrankungen und 90 Prozent der Schlaganfälle vermeidbar wären oder durch zu hohen Zuckerkonsum entstehen.
In einer anderen Auswertung der GDB Studie wird berichtet, dass 2017 11 Millionen Todesfälle und 255 Millionen „disability adjusted life years“ (das ist die Summe der durch Tod und gesundheitliche Einschränkungen verlorenen Lebensjahre) durch falsche Ernährung verursacht würden. Dazu zählen zu hohe Salzzufuhr, zu geringe Vollkornkost und zu geringe Zufuhr an Früchten. In der Zusammenfassung erwähnen die Autoren, dass aufgrund der Datenlage, ihre Daten mit einer statistischen Unsicherheit behaftet wären.
Im Klartext heißt das: Mit Sicherheit kann man nichts sagen. Der Grund: Die erhobenen Basis-Daten sind nicht sehr gut überprüfbar, deswegen reicht der Bereich, innnerhalb dessen das Ergebnis zu 95 Prozent richtig ist, von „Ernährung spielt fast keine Rolle“, bis zu „Ernährung ist wichtig“. Schade, dass eine Pressemitteilung herausgegeben wird, ohne vorher die von den Autoren in Nature Medicine 28:2019, 2022 selber eingeräumten Limitationen der Studien zu berücksichtigen.
Außerdem beruht die GDB Studie nur auf Berechnungen und Hochrechnungen von statistischen Korrelationen zwischen Todesfällen mit Ernährungsgewohnheiten. Sie kann also keinerlei Aussage darüber treffen, ob diese Erkrankungen durch die Ernährung bedingt sind. Zudem sind gesüßte Getränke nur für einen sehr kleinen Teil der Todesfälle und Erkrankungen verantwortlich - das steht so in den Studien, die die Autoren der Pressemitteilung zitieren.
Auf der Suche nach Studien, die die Pressemitteilung bestätigen könnten, findet man eine systematische Übersichtsarbeit in Nutrients 2024. Diese Zusammenfassung bezieht sich nur auf Beobachtungsstudien, nicht auf Therapiestudien (den Unterschied erkläre ich unter Punkt 3). Außerdem beschreibt sie leider nicht, ob die beobachteten Effekte relevant sind und bezieht sich nur auf berechnete Signifikanzwerte. Die statistische Signifikanz hilft zu beurteilen, ob zwei Gruppen sich unterscheiden. Aber sie sagt nichts darüber aus, ob der Unterschied relevant ist.
Zudem haben von den 65 ausgewerteten Studien, die meisten die Hirnleistung nur 15 Minuten nach Zuckerkonsum untersucht. Ob man wenige Minuten nach Konsum einer großen Menge Zucker, also wenn der Stoffwechsel voll arbeitet, etwas schlechter seine Aufgaben löst, hat nichts mit dem anhaltenden Zustand von Demenz zu tun. Deswegen wurden Therapiestudien notwendig.
3. Therapiestudien, die den Effekt unterschiedlicher Ernährungsformen testen
Während Beobachtungsstudien lediglich beobachtend, aber nicht intervenierend aufgebaut sind, bekommt in qualitativ hochwertigeren Therapiestudien eine von zwei Gruppe eine Therapie, die andere nicht. Interessante Studien dieser Art werden bald veröffentlicht werden. Sie heißen US POINTER und PROMED-EX. Es liegen aber schon einige Studien vor:
Die FINGER Studie verglich Diätberatung mit körperlichem Training, kognitivem Training und der Einstellung kardiovaskulärer Risikofaktoren. Doch es wurden nur marginale Effekte beobachtet. Sie betrafen „Executive Functioning“ und „Global Cognition“, aber nicht andere Formen der Hirnleistung. In dieser Studie trugen nur Diät, Risikofaktorenkontrolle (wie Hochdrucktherapie) und geistige Aktivität zum mageren Ergebnis bei, nicht aber körperliche Aktivität (andere Studien fanden das Gegenteil). Wie relevant ist so ein kleiner Unterschied für den Patienten? Hält er an? Wird er größer nach mehreren Jahren oder lässt er nach?
Die MIND Studie, die eine mediterrane Diät mit mehr pflanzlicher Kost, Nüssen, Beeren und Fisch testete, hilft weiter: Nach 3 Jahren wurde (durch die verbesserte Betreuung?) eine gleichermaßen auftretende Verbesserung der Hirnleistung sowohl in der MIND Gruppe, als auch der Kontrollgruppe gefunden. Also kein Effekt einer gesunden Kost.
4. Warum gibt es einige Studien, die einen Effekt zeigen, andere nicht?
Die Antwort liegt in der Art, wie die Kontrollgruppe behandelt wird. In der MIND Studie wurde die Kontrollgruppe fast so intensiv betreut, wie die Interventionsgruppe. Was passiert, wenn die Kontrollgruppe weniger betreut wird? In einer Studie wurde publiziert, dass eine Intervention mit kognitivem Training und Lebensstilberatung bei älteren Menschen mit erhöhtem Demenz Risiko Effekte hätte. Aber die Kontrollgruppe erhielt nur eine einmalige Gesundheitserziehung für sich selber und einmal für die Angehörigen.
Die Intervention hingegen bestand aus einer 7-wöchigen Schulung! Obwohl die eine Gruppe viel, die andere wenig Zuwendung erhielt, waren die Unterschiede marginal und kaum relevant. Das Gleiche gilt auch für viele andere Studien, die entweder keinen oder einen nur geringen Effekt zeigten. Außerdem verfälscht eine unbewiesene Annahme einiger Autoren das Bild in der öffentlichen Wahrnehmung: Einige Autoren rechnen den geringen, nach ein bis drei Jahren klinisch nicht relevanten Effekt über zehn Jahre hoch, als ob sicher wäre, dass er immer weiter zunehmen würde. Aber das ist unbewiesen!
5. Zucker „verzuckert“ das Gehirn
Es gibt Daten, die belegen, dass verschiedene Zucker, darunter auch Glukose, mit Eiweißen reagieren können. Einige der Reaktionsprodukte werden braun – eine chemische Reaktion, die man vom Kochen kennt. Die so gebildeten „verzuckerten“ Eiweiße nennt man „Advanced Glycated Endproducts“, abgekürzt auch „AGEs“, denn sie nehmen auch während des Alterungsprozesses zu.
AGEs werden nur sehr langsam und nur durch sehr hohe Glukosekonzentrationen gebildet, andere Zucker wie Ribose und Fructose machen dies viel schneller. Also spielt Glukose dabei kaum eine Rolle. Diese AGEs können unter anderem an ein Eiweiß an der Zelloberfläche binden, den „Receptor for AGEs“. Im Gehirn erklärt dies einen Teil der Entstehung von Demenz.
Daher ist die umgangssprachliche These von der „Verzuckerung“ des Gehirns nicht falsch, denn andere Zuckerarten wie Ribose und Fructose, oder sogenannte Dicarbonyle können dies tatsächlich. Doch es ist unbewiesen und daher falsch zu behaupten, dass Glukosezufuhr diese Reaktion im Gehirn starten würde und relevant zur Demenz beitragen würde.
Gegen das vereinfachende Argument mehr Zucker bedeutet mehr Demenz spricht, dass ältere Patienten mit Typ 2 Diabetes am ehesten von einer moderaten, aber nicht von einer zu strengen Glukose-Kontrolle profitieren. Es gibt keinen Beweis, dass Zucker in der Ernährung Demenz verursacht. Es gibt auch keinen Beweis, dass Verringerung der Zuckerzufuhr Demenz verbessert oder verhindert.
Auch wenn es im Allgemeinen keine Beweise für gesunde Ernährung oder ungesunde Lebensmittel gibt - ein Freifahrtschein für ungezügelten Zuckerkonsum sollte dies auch nicht sein.
6. Was können wir für uns und unsere Eltern und Großeltern tun?
So einfach wie gedacht, ist es nicht: Treibe Sport und iss gesund, nutzt wenig. Das Gegenteil, nämlich sich nicht bewegen und sich einseitig und zu üppig ernähren, nutzt sicher auch nichts und könnte schaden. Neben Faktoren wie Vererbung, Bildung, geistiger Aktivität, psychischen Faktoren und Stoffwechselfaktoren, sprechen viele Studien für eine gute Einstellung von Risikofaktoren, vor allem dem Blutdruck.
Nicht zu Rauchen ist grundsätzlich klug. Aber – egal was manche Bücher und „Experten“ sagen und schreiben - es gibt keine Ernährung gegen Demenz. Die Studien, die dies behaupten, zeigen entweder nur Kurzzeiteffekte, marginale Effekte, die so gering sind, dass der Unterschied der Hirnleistung von einer Person selber nur schwer bemerkt werden kann und vor allem: Die Studien, die Effekte zeigen, haben keine Kontrollgruppe, welche die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt bekommt, wie die Therapiegruppe.
Die kritische Analyse der Studienlage gibt aber einen anderen wichtigen Hinweis: Essentiell für unsere älteren Angehörigen sind menschliche Betreuung, das Vermindern der Einsamkeit, Zuwendung und Mitgefühl, gemeinsam verbrachte Zeit, Anregung, Hilfe, einen Sinn im Leben zu finden. Auch wenn man alt und pflegebedürftig ist. Der Lösungsweg kommt nicht immer aus der Medizin!
Was können wir jetzt tun? Alten Menschen unsere Zeit und unsere Anteilnahme schenken.
Was könnte einmal möglich sein? Medikamente sind in der Entwicklung, aber selbst wenn sie einige Hirnparameter verbessern sollten, ersetzen sie nicht die Zuwendung, das Mitgefühl und die Zeit, die wir alten Menschen schenken.