Kommentar: Merkel gegen Seehofer - Ja, ist denn die ganze Welt verrückt geworden?

Angela Merkel und Horst Seehofer zu Beginn der Unionsfraktionssitzung am Dienstag (Bild: dpa)
Angela Merkel und Horst Seehofer zu Beginn der Unionsfraktionssitzung am Dienstag (Bild: dpa)

Zwischen CDU und CSU kracht es. Selbst die Bundesregierung könnte darüber stürzen. Grund ist eine ansteckende Krankheit.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Politiker der CSU treten derzeit entschlossen auf, geradezu wild. Ihre Gesichter spiegeln einen Ernst der Lage wider, den ich nach intensiver Suche nicht gefunden habe.

Die CSU will unbedingt Grenzkontrollen. Sie drängt darauf, dass Bundespolizisten an der bayerischen Grenze patrouillieren und Geflüchtete, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, dorthin zurückschicken. Sie beschwört den „Geist von Dublin“, also jenes Abkommens, welches über Jahre dies genauso regelte, wodurch kaum ein Geflüchteter in Deutschland wegen seiner geografischen Lage ankam. Die CSU will diese Kontrollen, jetzt und sofort, sie stellt Kanzlerin Angela Merkel von der Schwesterpartei CDU gar ein Ultimatum von zwei Wochen.

Nun, die Lage an der Grenze muss schon ernst sein, meinte ich. Ich checkte sofort die Websites verschiedener Regionalzeitungen entlang der Grenze zu Österreich; so energisch, wie die CSU sich gibt, müssen ganze Horden einsickern, nein, stürmen. Dachte ich. Ist aber nicht so. Kein Thema in den Regionalzeitungen. An der Grenze tote Hose.

Was ist denn nun dort los?

Rational betrachtet macht das Verhalten der CSU keinen Sinn. Politik reagiert auf Problemlagen, aber hier existiert keine. „Ströme“ von Fliehenden gibt es derzeit an der deutschen Grenze: nicht. Ja, ist denn die ganze Welt verrückt geworden?

Ein Blick in den Kalender klärt auf. Im Oktober stehen bayerische Landtagswahlen an, bis dahin will sich die CSU als tatkräftige Partei installiert haben, und sei es eine Phantomtatkraft. Wir wissen ja spätestens seit Donald Trump, dass auch Phantomkräfte gewisse Wirkung entfalten. Das Kalkül: Die CSU will Anschluss finden an eine ausgemachte Stimmung in der Bevölkerung, dass es nun reiche mit den Geflüchteten, und die Partei lebt dieses Bemühen in einem Aktionismus aus, der sie selbst in einen Abgrund ziehen kann.

Denn nur am Rande die referierten Fakten, ich betone: AM RANDE, weil Fakten ja immer weniger zählen, geschätzte Leserinnen und Leser: Eine Notlage an der deutschen Grenze besteht nicht. Der „Geist von Dublin“ war eine unmoralische Kopf-in-den-Sand-Taktik Deutschlands, welche keine Lösung erbrachte: Über Jahre mussten Mittelmeeranrainer wie Italien und Griechenland die faktisch existierenden Fliehenden aufnehmen und wurden darin so lange allein gelassen, bis es nicht mehr ging. Diesen Moment des Aufwachens erlebte Merkel im Sommer 2015, während die CSU bis heute schnarcht.

Dublin funktionierte damals nicht, funktioniert heute nicht und wird in Zukunft nicht funktionieren. Wohin sollten denn die an der deutschen Grenze abgewiesenen Fliehenden gehen? Nach Italien, nach dem Motto: Nach mir die Sintflut? „Probleme“ würden nicht gelöst, sondern auf Wanderschaft geschickt, mit der Gewissheit, sie künftig wieder vor der eignen Haustür vorzufinden. Doch dies ist die derzeit international ansteckende Krankheit des Tages: der Egoismus, der sich im Populismus so lange bahn bricht, bis all diese Egoismen im Konflikt zueinanderstehen und nach der Vernunft schreien, die sie aus der entstandenen Notlage befreit.

Nur eine europäische Lösung macht Sinn. Genau dies strebt die CDU an. Sie denkt national und europäisch. Die CSU denkt nicht einmal bayerisch.

Was wurde aus dem Konservatismus?

Nun rächt sich, dass die Christsozialen einen unfassbaren Siegeszug der Milchbubis zugelassen haben. CSU-Parteichef Horst Seehofer ist von jüngeren Männern umzingelt, die aussehen wie vom Betriebsausflug der Junior-Staubsaugervertreter. Typen sind es nicht gerade. Ihr Antrieb ist das persönliche Vorankommen. Und um diese inhaltliche Konturlosigkeit zu verschleiern, legen sie einen demonstrativen Konservatismus an den Tag, über den Franz Josef Strauß gelacht hätte.
Recken wie er würden nie eine Bundestagssitzung unterbrechen lassen, damit CSU und CDU getrennt tagen – wegen einer Phantomlage, und das auch noch in Regierungsverantwortung. Diesen Job indes verrichtete CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, als wisse er nicht, was er tut. Die Milchbubis werden ihrer Partei zum Verhängnis.

Denn überhaupt nicht ausgemacht ist, dass dieses wahltaktische Agieren auch Wählerstimmen im Oktober bringt. Die CSU hatte immer Erfolg als Volkspartei, als Stimme einer ganzen Region. Nun spaltet sie die Bevölkerung, denn gewiss nicht alle sind von Angst vor irgendwelchen Horden gezeichnet, die es nicht gibt. Nicht wenige zeigen gar ihr Herz für die Soziallehren der christlichen Kirchen. Und jeder, der die Grenze nach Österreich passiert, wird sich über Kontrollen dort nicht gerade freuen – über die Wartezeit, den Stau; kein Privatreisender und die Wirtschaft erst recht nicht.

Die CSU könnte also mindestens so viele Wähler in der Mitte verlieren, wie sie rechts gewönne. Wenn nicht noch mehr. Die AfD steht in bayerischen Umfragen stabil, unabhängig vom christsozialen Posaunen. Der CSU droht also Magerkost. Ein Überdruss ob ihrer bundespolitischen Eskapaden. Sollte die Regierung in Berlin platzen, gäbe es rasch Neuwahlen. Sind sich die derzeitigen CSU-Bundestagsabgeordneten sicher, ob sie ihr Mandat verteidigen können? Der Einfluss der CSU auf die deutsche Politik ist in den vergangenen Jahren stetig weniger geworden, er passt sich den Realitäten einer Regionalpartei an. Vielleicht ist ihr derzeitiges Löwengebrüll nur ein vorletztes Aufbäumen dagegen.