Kommentar: Mit dieser Rede bewirbt sich Erdoğan um seine Abwahl

Endspurt im türkischen Wahlkampf: Präsident Recep Tayyip Erdoğan zeigt in seinen letzten Auftritten, was man von ihm erwarten kann – für das Volk nur wenig.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei seiner großen Wahlkampfrede am vergangenen Sonntag in Istanbul (Bild: REUTERS/Umit Bektas)
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei seiner großen Wahlkampfrede am vergangenen Sonntag in Istanbul (Bild: REUTERS/Umit Bektas)

Die türkische Gesellschaft hat die Wahl, und es gibt viel zu regieren. Der nächste Präsident muss das vom Erdbeben verheerte Land neu aufbauen und die Wirtschaftskrise zähmen. Die Inflation nach unten bringen. Amtsinhaber Erdoğan hatte seine Chancen dazu; die Situation ist, wie sie ist.

Doch nun haben die Kandidaten in der Endphase des Wahlkampfs die letzte Gelegenheit, für sich zu werben und den Wählern klarzumachen, was sie mit ihnen kriegen würden. Da ist die letzte große Rede von Erdoğan schon interessant. Denn was er sagte, klang nicht unbedingt staatstragend.

Vor Hunderttausenden Anhängern in Istanbul beschimpfte er seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu als „Säufer und Betrunkenen“. Man stelle sich vor, Olaf Scholz würde derart über Friedrich Merz reden – oder andersrum. Die Medien würden heiß laufen. Bei Erdoğan indes scheint solch ein Verbalmanöver normal zu sein. Statt sich als Person für alle Bürger zu präsentieren, spaltet er: Denn mit seinen Beleidigungen zielt er auf die alevitische Glaubensrichtung in der Türkei, der immerhin 15 Prozent der Bevölkerung anhängen; unter ihnen Kılıçdaroğlu. Bei den Aleviten ist Alkohol nicht strikt verboten, was sie vom orthodoxen sunnitischen Islam unterscheidet. Daraus gleich einen Säufer zu machen, ist ein mieser Move des konservativ-frömmelnden Präsidenten und außerdem ein Armutszeugnis, wenn er versucht, sich auf Kosten Anderer zu profilieren – als hätte er selbst nicht viel vorzuweisen.

Und was gibt’s noch?

Ferner warf er Kılıçdaroğlu vor, mit „Terroristen" zusammenzuarbeiten. Unter diesen Pauschalbegriff fallen Viele, die dem Präsidenten nicht passen und Dinge anders sehen. Vor allem Kurden werden unter diesem Deckmantel vieler Rechte beraubt. Erdoğan war nicht immer so. Vor ein paar Jahren noch steuerte er einen Kurs der Öffnung, der den marginalisierten „Bergtürken“, wie türkische Nationalisten gern sagen, mehr Rechte innerhalb der Republik zubilligte. Da er jedoch mit Ultranationalisten und Faschisten koalieren musste, um seine Macht zu halten, änderte er diese Richtung. Nun scheint es für ihn kein Problem zu sein, nicht nur Aleviten, sondern auch Kurden nicht gerade für sich zu begeistern.

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Tja, und dann hat er noch eine besonders große Gefahr für das Land ausgemacht. Teilen der Opposition warf er vor, sich für die Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen und Transmenschen auszusprechen. Auch hier verfährt er nach dem gleichen Strickmuster: Erdoğan macht kleinere Gruppen aus, kategorisiert sie und etikettiert sie als irgendwie schlecht – nur um sie auszugrenzen, eine Gefahr zu erfinden. Im Grunde agiert der fromme Muslim Erdoğan ziemlich unislamisch. Für ihn sind nicht nur alle Menschen nicht gleich, sondern er erhebt sich ständig über andere. Sowas hatte die Religion ursprünglich nicht im Sinn.

Erdoğan mag damit konservative Muslime mobilisieren, seine Kernwählerschaft mobilisieren. Schließlich ist seine Biografie eine lupenrein islamistische. Aber ein Präsident für alle Türken agiert anders.

Was benötigt wird

Der würde verantwortungsvoll auf die Zustände schauen, auf die mannigfaltigen Sorgen. Die Leute leben in Trümmern, und Erdoğan redet von Alkohol und LGBTQ. Seine Antworten sind Worthülsen. Den Menschen bieten kann er nur einen rigorosen Wiederaufbau; mit all den Konstruktionsfehlern, die nur zur Katastrophe beim Erdbeben geführt hatten. Die Politik seiner Partei AKP ist die eines einzigen Raubbaus an der Natur, eines fehlenden Respekts für die Schöpfung. Hab mich immer gefragt, wie man die Betonisierung des Landes vor Gott rechtfertigen kann.

Und die Inflation ist zumindest in Teilen auf die Interventionen des Präsidenten zurückzuführen, der sich womöglich auch für einen genialen Ökonomen hält. Kurzum: Erdoğan müsste Wählern eine Perspektive bieten. Doch bisher kommt da nur Lästern über Andere in der Gegenwart und Scheitern in der Vergangenheit.

Halt, eine Sache versprach er: Die Beamtengehälter im Falle eines Wahlsieges sollen angehoben werden. Wenn das Volk zu seinem Sultan brav war. Ob das reicht?