Kommentar - Ein offener Brief offenbart die absurde Migrationsdebatte in der SPD

Bundeskanzler Olaf Scholz hält auf seiner SPD-Sommerreise eine Rede.<span class="copyright">Annette Riedl/dpa</span>
Bundeskanzler Olaf Scholz hält auf seiner SPD-Sommerreise eine Rede.Annette Riedl/dpa

SPD-Abgeordnete fordern ein „Weiter so“ in der Migrationspolitik – in einem offenen Brief, der an sie selbst gerichtet ist. Der PR-Stunt ist hasenfüßige Politik, um das eigene Gewissen reinzuwaschen. Eine parlamentarische Mehrheit würden die Briefschreiber nicht finden können.

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Man hätte meinen können, die SPD habe endlich verstanden . Verstanden, dass eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht einverstanden ist mit dem Asylkurs der Ampel. Verstanden, dass es gegen das Gerechtigkeitsempfinden geht, wenn einzelne Flüchtlinge den Schutz ihres Gastlandes ausnutzen, um hier Straftaten zu begehen. Und verstanden, dass Integration zwar wichtig ist, sie aber nur gelingen kann, wenn die Kommunen nicht unter einer immer größer werdenden Zahl von unterzubringenden Menschen ächzen müssen.

Mit dem Asyl- und Sicherheitspaket der Bundesregierung hat Kanzler Olaf Scholz (SPD) einen ersten Schritt unternommen – wenn auch nicht so groß, wie CDU-Chef Friedrich Merz das auf dem Migrationsgipfel nach dem Anschlag in Solingen abringen wollte. Doch nun fallen ihm seine eigenen Leute mit einem offenen Brief in den Rücken. „Eintreten für Würde“ will der Aufruf und versteht darunter: „Menschenrechte wahren, Asylrecht verteidigen, sozialdemokratische Werte leben!“

SPD-Abgeordnete adressieren sich mit ihrem Brief selbst

So ein offener Brief ist zunächst kein bemerkenswerter Vorgang. Prominente SPD-Unterstützer, sozialdemokratische Unternehmer, Gewerkschaften, ja sogar die Jusos können so einen Aufruf an die SPD-Politiker im Bundeskabinett, im Bundestag, und in der Parteizentrale gerne schreiben. Denn sie haben nur begrenzt direkten Einfluss auf die genannten drei Autoritäten. Als Form der PR ist der offene Brief dann absolut zulässig.

Doch absurd wird es, wenn plötzlich SPD-Bundestagsabgeordnete Forderungen an sich selbst adressieren. Nichts anderes passiert mit dem Aufruf gerade. Neben dem Juso-Bundesvorsitzenden Philipp Türmer, SPD-Influencerin Lilly Blaudszun und einigen Orts- und Kreisvorsitzenden zählen nämlich sechs Bundestagsabgeordnete zu den Initiatoren. Hinzu kommen weitere, die den offenen Brief später unterzeichnet haben.

Das Vorgehen der SPD-Abgeordneten ist hasenfüßig

„Mit Trauer, Wut und Entsetzen mussten wir in den vergangenen Tagen mitverfolgen, wie führende Sozialdemokrat*innen einen Diskurs der Ausgrenzung und Stigmatisierung mitbefeuert haben“, beklagen sie. Ausgrenzend sind für sie zum Beispiel Zurückweisungen an Grenzen und das Streichen von Sozialleistungen bei Dublin-Fällen – also solchen Flüchtlingen, die eigentlich gar nicht in Deutschland Asyl beantragen dürfen.

Das kann man so sehen. Es ist aber reichlich hasenfüßig, als Angehöriger der größten regierungstragenden Fraktion im Bundestag auf diese Weise Politik zu machen. Der SPD-Abgeordnete Hakan Demir wurde bei X direkt gefragt, warum er den Aufruf bislang nicht unterzeichnet hat. Seine Antwort: „Ich teile den Inhalt des offenen Briefes. Im Parlament setze ich mich mit anderen Kolleg:innen für eine Änderung des Gesetzes ein.“ Er wolle nicht Briefschreiber und Adressat in einer Person sein.

Die Unterzeichner wollen ihr Gewissen rein waschen, ohne sich nasszumachen

Das ist anständig. Die Initiatoren und Unterzeichner des offenen Briefs wollen hingegen ihren Kanzler, ihre Parteiführung und ihren Fraktionsvorsitzenden mit einer öffentlichen Kampagne – getragen von einer breiten Basis, so soll es vermittelt werden – zu einem „Weiter so“ in der Migrationspolitik erpressen.

Bei am Freitagvormittag rund 10.700 Unterschriften wird in der Partei aber kaum Stimmung aufkommen. Zum Vergleich: Die SPD hat rund 365.000 Mitglieder. Zudem dürfen auch Nicht-Mitglieder unterschreiben. Was also treibt die unterzeichnenden Parlamentarier an? Wenn das Asyl- und Sicherheitspaket verabschiedet werden wird, haben sie ihr Gewissen rein gewaschen – ohne dabei nass geworden zu sein. In der Fraktion gelten sie dann nicht als harte Abweichler, wirklich Farbe bekennen mussten sie nicht.

Die Briefschreiber würden keine parlamentarische Mehrheit finden

Ehrlicher wäre es, so Politik zu machen, wie Abgeordnete das eben tun: Unterstützerinnen und Unterstützer in der Fraktion um sich scharren, eine Mehrheit finden, Gesetze beziehungsweise deren Entwürfe ändern. Selbst einen Olaf Scholz würde es nicht unbeeindruckt lassen, wenn auf diesem Weg der Willensbildung plötzlich eine Mehrheit gegen ihn stünde.

Doch so ist die Stimmung nicht. In der Bevölkerung nicht, im Bundestag insgesamt nicht und auch nicht in der SPD-Fraktion. Denn eine Mehrheit hat eben doch verstanden, dass es so nicht weitergehen kann. Eine SPD-Fraktion, die sich in zentralen Fragen nicht an der öffentlichen Stimmung orientiert, wird nach der nächsten Bundestagswahl eine deutlich kleinere sein.