Kommentar von Professor Krause - Mit dem unerwarteten Kursk-Vorstoß verärgert Ukraine neben Putin auch die USA

Man könne sein Land nicht nur lieben, wenn man gewinne, sagt Biden. (Archivbild)<span class="copyright">Manuel Balce Ceneta/AP/dpa</span>
Man könne sein Land nicht nur lieben, wenn man gewinne, sagt Biden. (Archivbild)Manuel Balce Ceneta/AP/dpa

Ukrainische Brigaden sind überraschend, aber gut vorbereitet, tief in russisches Gebiet vorgestoßen. Politik-Experte Joachim Krause analysiert die Bedeutung dieser Operation und ihre möglichen Auswirkungen.

Was bedeutet der Vorstoß ukrainischer Verbände in den russischen Bezirk Kursk?

Anders als vorherige Vorstöße einzelner kleiner Gruppen handelt es sich hier um eine gut vorbereitete und mit mindestens zwei Brigaden vorgetragene Offensivoperation, die Mittwoch entlang von zwei Achsen bis zu 10 km in russisches Territorium vorgedrungen ist. Die Offensive hat das Überraschungsmoment ausgenützt und die ukrainischen Verbände haben mit Hilfe von gepanzerten Fahrzeugen in russisches Gebiet eindringen können.

Die Frage ist offen, wie sich die Ukrainer auf russische Gegenwehr einstellen. Da fast alle russischen Heeresverbände an der über 1000 km langen Front gebunden sind, wird Russland zuerst mit Luftangriffen versuchen, die Ukrainer zu vertreiben. Die Ukrainer werden sich darauf eingestellt haben und entsprechende Luftabwehreinheiten in das Gebiet bringen.

Es wird Zeit brauchen bis russische Heeresverbände in ausreichender Zahl eine Gegenoffensive starten können. Eine weitere Frage ist, wie weit die Ukrainer vorstoßen können, ohne sich zu überdehnen. Mit Blick auf den Verlauf des Krieges ist dies der tiefste Vorstoß, den eine der beiden Seiten seit Ende 2022 erreichen konnte. Die Tatsache, dass die Ukrainer diese Operation planen und erfolgreich durchführen konnten, ist eine große Überraschung, denn allgemein wird davon ausgegangen, dass ein transparentes Gefechtsfeld bestehe, auf dem jede Seite genau verfolgen könne, was die andere gerade vorhabe.

Was sind die weitergehenden Ziele der ukrainischen Operation?

Darüber kann man derzeit nur spekulieren. Es gibt mehrere Motive, die mir relativ wahrscheinlich erscheinen. Zum einen kann die Absicht dahinter stehen, die stark unter Druck stehende ukrainische Front im Donbas zu entlasten.

Zum Zweiten kann es sich um einen Versuch handeln, für mögliche Verhandlungen über einen Waffenstillstand ein territoriales Faustpfand in der Hand zu haben.

Drittens hebt diese Offensive natürlich auch die Moral auf ukrainischer Seite. Aber das sind alles erst einmal Spekulationen, denn die Ukrainer haben nichts konkretes verlautbaren lassen. Es kann aber auch sein, dass wir hier den Versuch sehen, die US-Regierung vor vollendete Tatsachen zu stellen, um politische Konzessionen in einem anderen Bereich zu erreichen, nämlich bei den Restriktionen für den Einsatz westlicher Waffen.

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Wie gut war die russische Seite vorbereitet und wie wird das russische Militär reagieren?

Offenkundig hat diese Offensivoperation die Russen völlig unvorbereitet erwischt. Das wirft vor allem die Frage auf, wer in Moskau dafür verantwortlich gemacht wird. Manche spekulieren schon, dass Generalstabschef Gerassimow darüber stürzen könnte, denn er ist für die Gesamtoperation (die sogenannte „Spezialoperation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung“) verantwortlich und hätte für diesen Fall Vorsorge treffen müssen.

Das russische Militär wird neben Luftwaffeneinheiten auch Heeresverbände aus anderen Bereichen der Front abziehen müssen, um den Vormarsch der Ukrainer zu stoppen und um diese zurückzudrängen. Dadurch bekommen die Ukrainer an anderen Frontabschnitten die Gelegenheit, Schwachpunkte der russischen Seite auszunutzen.

Was muss man von Putins Reaktion halten, der von einer „groß angelegten Provokation“ spricht?

Für jemand, der jeden Tag eine „großangelegte Provokation“ und „terroristische Überfälle“ auf die Ukraine zu verantworten hat, ist diese Aussage schon ziemlich starker Tobak. Seine Aussage lässt seinen tiefsitzenden Ärger darüber erkennen, wie sehr er sich mit der Aggression gegen die Ukraine verkalkuliert hat. Der Krieg sollte eigentlich nur eine Woche dauern und nun ist er schon im dritten Jahr und die russischen Verluste an Menschen und Material sind enorm.

Den Ukrainern gelingen immer häufiger Drohnenangriffe tief im russischen Territorium, etwa gegen Radar-Stellungen, Militärflugplätze, Schiffe der russischen Marine oder Treibstoffbunker und Raffinerien. Und jetzt kommt noch eine Offensivoperation gegen Russland selbst vor, die natürlich begrenzt bleiben wird, die aber für Putin ein Pfahl im Fleisch ist.

Wie werden die USA reagieren?

Ich gehe davon aus, dass die amerikanische Regierung über den Vorstoß in russisches Territorium nicht begeistert sein wird und möglicherweise auch vorab nicht informiert worden ist. In Washington herrscht die Furcht vor unkalkulierbaren russischen Reaktion, die mir wie den meisten Experten übertrieben zu sein scheint. Aber Bidens Denken ist noch tief in der Rüstungskontrolllogik des Kalten Krieges verankert.

Die Biden-Administration hat den ukrainischen Truppen jede Menge von Restriktionen auferlegt, die deren Möglichkeiten erheblich einschränken, russische Angriffskräfte in der Tiefe des Raumes ausschalten zu können. Ich gehe davon aus, dass die US-Regierung die Ukraine deutlich kritisieren und verlangen wird, dass die Operation räumlich begrenzt bleibt oder dass sich die Ukrainer wieder zurückziehen.

Möglicherweise haben die Ukrainer diesen Vorstoß auch unternommen, um die Amerikaner im Gegenzug zu einem Rückzug dazu zu veranlassen, endlich die verhängnisvollen Restriktionen beim Einsatz amerikanischer Waffen aufzugeben. Wir werden sehen, was daraus kommt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich nichts Präziseres aussagen.