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Kommentar: Pünktlich zum Gründungstag macht Netta Israel netter

Netta Barzilai und ihr Team feiern den ESC-Sieg (Bild: Reuters)
Netta Barzilai und ihr Team feiern den ESC-Sieg (Bild: Reuters)

Zum 70. Jahrestag der Staatsgeburt zeigt sich die ganze Spannung rund um Israel – selbst der Gewinn des European Song Contest wird politisiert. Zeit, etwas zu chillen.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Für die einen werden es Tage des Zorns, für die anderen des Jubels. Am Dienstag begehen Palästinenser den Tag der “Nakba”, der Katastrophe, während heute Jerusalem einen neuen Nachbarn begrüßt, nämlich die US-Botschaft. Da wir alle genauso Israelexperten sind wie bessere Fußball-Nationaltrainer als Jogi Löw, hagelt es nun Kommentare, Ratschläge und Missbilligungen.

Natürlich ist diese Zeit spannungsreich. Aber eine Dämonisierung nach der anderen hilft nicht weiter. Den anderen zuhören dagegen schon.

Aus der Geschichte lernen – für eine bessere Zukunft für alle

Dass Palästinenser den 70. Gründungstag Israels als Katastrophe ansehen, ist ihnen nicht zu verübeln. Ihre Großeltern wurden 1948 vertrieben, die Hoffnung auf einen Staat wurde im Staub zertreten, und in Folge dessen leben die Palästinenser bis heute in einer Abhängigkeit von Israel, die ihnen Unfreiheit bringt. Sie sind unten, Israelis oben. The winner takes it all. Die Beziehung zwischen Palästinensern und Israelis kennzeichnet sich auf beiden Seiten durch Ungerechtigkeit, Hochnäsigkeit, Ignoranz, Hass und einen verbohrten Blick.

Israelis, hier kommt mein Nationaltrainerrat, sollten mehr zuhören und anerkennen, was für Palästinenser eine Nakba ausmacht. Es geht um die Anerkennung historischer Schuld. Und Palästinenser sollten auch mehr zuhören und anerkennen, dass es verdammt gute Gründe gab, einen Staat Israel zu gründen.

Am Tag der Botschaftseröffnung kommt es erneut zu Protesten und Ausschreitungen an der Grenze zum Gazastreifen (Bild: Reuters)
Am Tag der Botschaftseröffnung kommt es erneut zu Protesten und Ausschreitungen an der Grenze zum Gazastreifen (Bild: Reuters)

Wenn man dem anderen zuhört, vermutet man nicht gleich böse Absicht. Nicht in jedem Wort steckt eine Aggression. Dass Palästinenser in diesen Tagen zu Massendemonstrationen aufbrechen, um an den Grenzen von Gaza und Westbank zu Israel gegen die unerfreuliche Ausgestaltung ihres Verhältnisses zu Israel zu protestieren, ist ihr gutes Recht. Dass die Organisation Hamas billigend Verletzte und Tote vorab in ihre Rechnung einspeist, ist es nicht. Hamas orchestriert nicht nur zivilen Protest, sondern bewaffnet ihn auch und zeigt mal wieder, wie sehr diese Gruppe auf dem Holzweg ist. Falken hüben und drüben profitieren voneinander. Es ist das alte Spiel.

Es geht nur um ein Lied

Dass sich nicht jedes Wort aus kühler Strategie speist, muss nun Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erfahren. Nachdem Netta Barzilai den European Songcontest mit ihrem hinreißenden Lied “Ich bin nicht dein Spielzeug” gewann, lud er flugs zum nächsten Wettbewerb im kommenden Jahr in Israel ein – nach Jerusalem. Da hagelte es gleich Kritik, er instrumentalisiere den Songcontest; schließlich sei Jerusalem nicht international anerkannte Hauptstadt Israels.

Können wir die Kirche mal im Dorf lassen? Und können wir aufhören ständig Schablonen hervorzukramen, wenn es um Israel geht? In deutschen Medien wird Jerusalem so beschrieben: Eine abgeriegelte Zone religiöser Eiferer, totaler Spaßbremsen, in der nur geweint und saure Gurken gegessen wird. Tel Aviv dagegen sieht in der medialen Schablone wie folgt aus: Eine einzige Partymeile, alles ist easy. Natürlich sind die Einwohner von Tel Aviv irgendwie links, jedenfalls entspannt, und mit der Besatzung haben sie auch nichts zu tun.

Netta-Fans feiern den ESC-Sieg in Tel Aviv (Bild: Reuters)
Netta-Fans feiern den ESC-Sieg in Tel Aviv (Bild: Reuters)

Diese beiden Bilder sind großer Quatsch. Am Stand von Tel Aviv kann man den Militärhubschraubern zusehen, wenn sie zum Einsatz in Gaza fliegen. Und Jerusalem hat genügend Cafés, Kneipen, Clubs, Museen und Theater, die aufregend genug sind, womit der gemeine Teutone sich austoben könnte; ganz abgesehen davon, dass Jerusalem immer auch der Ostteil ist, mit seiner faszinierenden und lebendigen palästinensischen Altstadt.

Warum nicht Jerusalem?

Die einfache Rechnung aber sagt auf, dass Netta Barzilai für Tel Aviv stehe, und deshalb könne der nächste Songcontest nicht nach Jerusalem wandern. Ganz ehrlich: Die diskriminierende Politik Israels gegenüber Ost-Jerusalems, diese stete Vereinnahmung und der komische aufoktroyierte Rechtsstatus, wird nicht durch einen Songcontest geadelt oder legitimiert, denn ein Songcontest ist ein… Songcontest. Daher bleibt die sich aufdrängende Frage nicht “Warum in Jerusalem?”, sondern vielmehr “Warum nicht in Jerusalem?”

Netta Barzilai ist Israelin und steht, wenn man das überhaupt sagen kann, für das ganze Land. Da lassen sich keine Scheiben rausschneiden. Alles weitere regelt: das Zuhören.